Dienstag, 23. August 2005

Gefühlter Verstand

Seit ein paar Monaten ist das Gerangel um den Chefsessel im Kanzleramt in vollem Gange. Und wenn man den Medien glauben darf: Es herrscht Wechselstimmung. Aber: Darf man das eigentlich? Den Medien glauben? Der regelmäßige Leser kennt meine leicht kritische Haltung gegenüber allem, was angeblich oder tatsächlich "offensichtlich" ist - weil das offen Sichtliche nicht selten auch oberflächlich ist. Ein Blick unter diese Oberfläche dessen, was einem an allen Ecken und Enden in die Augen und Ohren gedrückt wird, kann deshalb eigentlich nicht schaden. Eher im Gegentum.

Die inzwischen fast täglich veröffentlichten Umfrageergebnisse sind zum Beispiel bestens dazu geeignet, um zu erkennen, dass es sich dabei um nichts anderes als ein Lesen im Kaffeesatz handelt. Aber immerhin: "Wissenschaftlich und repräsentativ". Exact das nämlich ist die Erklärung für das Paradoxon, dass die Unionsparteien im Osten Deutschlands angeblich prozentual zugelegt haben, obwohl die Herren Schönbohm und Stoiber über genau diese Ostdeutschen kräftig hergezogen haben. Wenn über Menschen, die in Gebieten mit regionalen Besonderheiten leben, mit einiger Abfälligkeit und Überheblichkeit gelästert wird, sollte man eigentlich erwarten können, dass das nicht gerade gut ankommt.
Laut aktueller Umfragen jedoch ist das Gegenteil der Fall. Nun könnte man das als Bestätigung für die Dummheit der Ostdeutschen sehen. Ich persönlich neige allerdings vielmehr dazu, das als weiteren Nachweis für die Verzichtbarkeit und Belanglosigkeit dieser (und anderer) Umfragen zu verwenden.

Was zum Beispiel soll man eigentlich mit der (laut verkündeten) Information anfangen, dass aktuell die SPD mit 29% völlig chancenlos und abgeschlagen sein soll - wenn es gleichzeitig (deutlich leiser) heißt, dass die Hälfte aller Wahlberechtigten sich noch nicht entschieden hat? Zumindest rein theoretisch könnte die SPD damit am Wahltag auch bei 79% liegen. Und weniger theoretisch, sondern sehr praktisch kann damit auch jede Umfrage täglich anders aussehen und die SPD irgendwo zwischen 29 und 79% ausweisen.
Was dann immerhin für die jeweiligen "Meinungsforschungsinstitute" und Medien der immensen Vorteil hat, potenziell tagtäglich von "neuen Entwicklungen" berichten zu können. Und nur darum geht es. Es geht nicht darum, die Öffentlichkeit zu informieren. Es geht für die beauftragten Institute um weitere Aufträge. Also: Um Geld. Und für die Medien um ("neue") Meldungen und Schlagzeilen und Einschaltquoten und Auflagen. Also: Ebenfalls um Geld.

Wie auch bei diversen "TV-Duellen". Hauptsache, der Stammtisch hat wieder etwas zu diskutieren. Wenn man den Politikern aller Parteien glauben soll, dann geht es jedoch um etwas anderes. Nämlich in erster Linie um Wachstum und Arbeitsplätze. Und in zweiter Linie darum, auf "soziale" und "gerechte" Weise für dieses Wachstum und für diese Arbeitsplätze zu sorgen. Das Wahlvolk scheint Herrn Schröder das nicht (mehr) zuzutrauen - glaubt man den Umfragen. Jedoch: Der Union genausowenig. Nichtsdestotrotz herrscht "Wechselstimmung": Schröder muss weg. Mit "HartzIV" ist schließlich nichts besser geworden. Und überhaupt: Das Wetter in diesem Sommer ist auch ganz miserabel. Grund genug(?), um "einmal andere an´s Ruder zu lassen".

Wenn diverse Wähler aus Frust über "HartzIV" dann von Herrn Schröder zu Frau Merkel überlaufen, die öffentlich bestätigt: "HartzIV kann nur der Anfang gewesen sein", muss man sich eigentlich fragen, ob man nicht in Zukunft zwischen "Wahlberechtigten" und "Wahlfähigen" unterscheiden sollte. Und wenn Frau Merkel ebenso öffentlich verkündet, sie könne weder Wachstum noch Arbeitsplätze schaffen, sondern könne nur versprechen, dass sie sich "darum bemühen" werde, dann ist dieser Null-Unterschied zu Schröder mehr als bezeichnend. Eigentlich.

Ebenso bezeichnend wie der Kommentar von Klaus-Peter Schöppner, Chef des Meinungsforschungsinstituts "TNS Emnid", der von einer "Kommunikationsverarschung des Wählers" spricht: "Das Verhalten der Wähler wird immer willkürlicher: Heute wird CDU gewählt, weil man SPD nicht mehr wählen kann. Nicht mehr der Kampf um den richtigen politischen Weg, sondern das Bauchgefühl, fast eine Zufallslaune der Geschichte, entscheidet die Wahlen. Und wenn bis zur Wahl noch irgendwo ein schwarzer Koffer gefunden wird, sind die Wahlen wieder ganz offen. Denn: Der Zufall entscheidet", so Schöppner in einem SPIEGEL-Interview.
Einerseits könnte man sich nun fragen, warum Herr Schöppner angesichts seiner Meinung überhaupt mit Meinungsforschung sein Geld verdient. Oder warum Umfrage-Ergebnisse nicht mit dem Hinweis versehen sind: "Korrektheit vom Zufall abhängig". Andererseits zeigt das Ganze eindrucksvoll, wie der "gefühlte Verstand" im Wahlvolk nicht nur darüber bestimmt, wer demnächst im Kanzlersessel sitzt. Sondern dass "gefühlter Verstand" die Grundlage für Entscheidungen ist. Und damit dafür, wie unser aller Zukunft aussehen wird.

Gefühlter Verstand: Wir entscheiden und handeln aus dem Bauch - doch wir finden in jedem Fall etliche rationale Vernunftgründe für diese Entscheidungen, wenn es sein muss. Ergebnisse sind Zufall und unkalkulierbar - aber wir tun einfach mal so, als hätten wir Durchblick. Wie sähe das schließlich auch aus, wenn wir uns eingestehen müssten, dass der pure Zufall darüber entscheidet, wer unser Land regiert und in welche Richtung wir steuern(?).

Montag, 28. Februar 2005

Wo bleibt die Empörung?

Nun hat sich ganz Deutschland (oder besser: Medien und Politik) eingehend mit der Philosophie der Deutschen Bank beschäftigt, trotz Rekordgewinn weltweit 6.400 Mitarbeiter entlassen zu wollen - verantwortet von deren Vorstandschef Ackermann mit einem Jahresgehalt von etwa 11 Millionen Euro. Wie sich inzwischen gezeigt hat, hat die allgemeine Empörung Wirkung gezeigt: Die Deutsche Bank will über die Entlassungen "noch einmal nachdenken" und Herr Ackermann rechtfertigte sich mittlerweile öffentlich, indem er darauf hingewiesen hat, dass ihm "rein vertraglich noch viel mehr Geld zugestanden hätte" als schlappe 11 Millionen Euro. Ziel erreicht? Eine Lobeshymne auf unsere unnachgiebige Medienlandschaft? Nun:

Zunächst einmal ist dabei nichts weiter herausgekommen als heiße Luft. Erzählt wird nun einmal viel, wenn der Tag lang und der "öffentliche Druck" groß genug ist. Das einzige, das Herr Ackermann nun tun muss, ist abzuwarten, bis sich das ganze ein wenig beruhigt hat. Erfahrungsgemäß kräht in wenigen Wochen kein Hahn mehr danach.
Mich persönlich beschäftigt in erster Linie die Frage, aus welchem Grund "man" sich ausgerechnet auf die Deutsche Bank derartig eingeschossen hat(?). Auch die Commerzbank zum Beispiel hat ihren Vorstandsmitgliedern eine saftige Gehaltserhöhung von 120.000,- Euro pro Mann und Jahr zugestanden - während gleichzeitig verkündet wurde, leider 900 Mitarbeiter "freisetzen" zu müssen. Und hier? Wo bleibt hier die Empörung? Die nicht minder fragwürdige Philosophie der Commerzbank hat nicht ein Drittel so viel Aufmerksamkeit und Aufregung entfacht. Und weil das so ist, kam am Wochenende ein bemerkenswertes Geschäft zustande: Das Frankfurter Waldstadion wird ab Sommer nicht mehr "Frankfurter Waldstadion" heißen, sondern "Commerzbank-Arena". Sieh an. Die Commerzbank hat für zehn Jahre das Namensrecht an der Sportstätte erworben - und zwar für eine Summe in zweistelliger Millionenhöhe, wie vermutet wird.

Donnerstag, 10. Februar 2005

Wie Unfug zum Erfolg wird

Wieder einmal berichten Wissenschaftler voller Eigenlob von einem grandiosen Erfolg. Und wieder einmal zeigt sich: In der Wissenschaft zählt es sogar als Erfolg, völlig daneben zu liegen. In dem aktuellen Fall wissenschaftlicher Tatsachenverdrehung geht es um die Lawinenforschung: Mit einer mathematischen Formel wird die Katastrophe jetzt berechenbar. Angeblich.

Wie man weiß: Lawinen sind eines der erstaunlichsten Naturphänomene. Allerdings können sie auch lebensgefährlich sein, wenn man sich zufällig darin befindet. Als Skifahrer etwa. Wie man ebenfalls weiß, kann sich der Mensch einfach nicht damit abfinden, der Natur machtlos gegenüberzustehen. Deshalb genügt es auch nicht, Menschen schlicht und einfach aus Lawinengebieten fernzuhalten, sondern man "muss irgendetwas tun", um Lawinen berechenbar zu machen. Schneeforscher versuchen deshalb zu berechnen, wie eine Lawine entsteht, wo sie zum Stehen kommt, welche Zerstörungskraft sie besitzt und welche Gebiete ein "sicheres Bauen" ermöglichen.
Genau dieser Aufgabe widmete sich der französische Forscher Frédéric Ousset mitsamt seinem Team. Und wie heute zu lesen: Mit Erfolg! Eine Formel ermöglicht nun die computergestützte Berechnung des Verhaltens einer Lawine. Angeblich.
Tatsächlich jedoch wird - wie immer: bei etwas genauerem Hinschauen - sehr deutlich, dass hier wieder einmal grober Unfug als "Erfolg" verkauft wird. Die allgemein verbreitete Wissenschaftsgläubigkeit wird ausgenutzt, um der Mehrheit der wissenschaftlichen Laien einen "Erfolg" unterzujubeln, der keiner ist. Umso schlimmer, wenn diese Mehrheit der Laien das auch noch bereitwilligt glaubt, weil das schließlich "wissenschaftlich erwiesen" ist.

Folgendes: Zunächst einmal hat dieser französische Forscher namens Frédéric Ousset seine Forschungsarbeit folgendermaßen erklärt: "Wir können die Versuche nur nachts machen, weil die Sonne die Kristalle verändern würde und die Messergebnisse wären dahin". Aha. Das ist aber unpraktisch, nicht wahr: Die Sonne würde die Messergebnisse zunichte machen. Verflixt aber auch, dass die Sonne Einfluss auf die Naturgeschehnisse hat, und sich Lawinen nun einmal in der Natur befinden und nicht im Labor.
An dieser Stelle dürfen wir also zunächst erst einmal ganz neutral feststellen, dass es zwischen Lawinen in der Nacht und Lawinen am Tag einen bedeutenden Unterschied gibt, der durch die Sonnenstrahlung entsteht. Monsieur Oussets Messungen (und damit eben auch seine Formel) gelten also - wenn überhaupt - für Lawinen, die nachts den Berg hinunterrauschen - nicht am Tag. Das wird "natürlich" nicht explizit erwähnt, das muss man zwischen den Zeilen lesen.

Zum anderen hängt das Verhalten von Lawinen von Einflüssen ab, die sich an Miniatur-Lawinen im Labor nicht künstlich herstellen lassen, wie etwa die turbulente Staubkrone einer solchen Lawine. Monsieur Ousset hat das deshalb anders simuliert. Und zwar nämlich in einem überdimensionalen Aquarium mit 20 Kubikmeter Wasser (das den Luftwiderstand ersetzen soll) und mit Quarzsand (der den Schnee ersetzen soll): "Die Wirbel haben zwar nicht das Tempo wie an der Luft, ihre Bewegungen sind aber fast wie im Freien", so Ousset.
Eben: "fast". Nicht identisch. Sondern: "fast". Selbst der Laie sollte nachvollziehen können, dass Wasser nicht Luft, und Quarzsand nicht Schnee ist. Es mag sich ähneln, aber das eine ist mitnichten das andere. Monsieur Ousset dürfte also allenfalls einen Preis für Ideenreichtum bekommen: Seine Formel basiert einserseits auf den Messungen von ausschließlich nächtlichen Lawinen, sowie andererseits auf dem Verhalten von Quarzsand im Wasser, und nicht auf dem Verhalten von Schnee auf einem Berg.

Natürlich: Ideenreich. Und immerhin: Man nähert sich der Realität. Das ist aber auch alles. Unter dem Strich steht die Tatsache: Das Verhalten von Lawinen ist nicht berechenbar. Punkt. Das Gegenteil jedoch wird behauptet. Doch es kommt noch besser:
Natürlich hat Monsieur Ousset das Ganze auch praktisch getestet, um die Richtigkeit seiner Formel zu "beweisen". Laut Bericht begab man sich dafür nach Norwegen zu einem "Test- Gelände", das "bis auf den Zentimeter genau vermessen" ist. Das französische Forscherteam hat dann den Computer mit den notwendigen exacten Angaben der dortigen Bedingungen (u.a. die Art und Mächtigkeit des Schnees an einem Hang) gefüttert und mittels ihrer Formel das Verhalten einer Lawine berechnet. Anschließend zündeten sie einen Sprengsatz, lösten damit eine Lawine aus, und verglichen die Formel-Berechnung mit dem realen, tatsächlichen Lawinenabgang. Das Ergebnis: "Unsere Computerprognosen lagen mal nur um fünf, mal um zehn Meter neben der tatsächlichen Reichweite der Lawine". Ein toller Erfolg, der die Richtigkeit der Formel in der Praxis bewiesen hat. Oder?

Lesen Sie selbst noch einmal nach: Durchgeführt wurde das Ganze auf einem Testgelände, das "bis auf den Zentimeter genau vermessen" ist. Betonung: Bis auf den Zentimeter genau. Und: Die mittels Formel berechnete Prognose lag "mal nur um fünf, mal um zehn Meter" daneben. "Nur" um fünf Meter, und "nur" um zehn Meter. Betonung: Meter. Nicht: Zentimeter.
Im Klartext heißt das: 5 Meter sind 500 Zentimeter und 10 Meter sind 1000 Zentimeter. Das ist die auf Zentimeter umgerechnete Abweichung der Prognose von der Realität. Eine Abweichung von 500 bis 1000 Zentimetern auf einem Gelände, das bis auf den Zentimeter genau vermessen ist... Diese Formel weicht also um das 500 bis 1000-fache von der Realität ab. Das ist exact so, als wenn Sie Ihre monatlichen Fix-Kosten bis auf den Euro genau ausrechnen ... und am Monatsende zwischen 500 und 1000 Euro daneben liegen. Würden Sie das auch als Erfolg bezeichnen?

Freitag, 21. Januar 2005

Unter Generalverdacht

Seit dem Mord an Rudolph Moshammer haben sich Politik und Medien gleichermaßen auf ein Thema gestürzt: Die Wichtigkeit von DNS-Tests zur Kriminalitätsbekämpfung. Nur nebenbei sei hier angemerkt, dass man sich wieder einmal mit Vehemenz auf ein Folge-Problem stürzt: Die komplette aktuelle Diskussion dreht sich einzig und allein darum, bereits begangene Verbrechen effizienter (oder: überhaupt) aufklären zu können. Nicht eine Sekunde wird darüber nachgedacht, wie sich Kriminalität von vorn herein verhindern oder zumindest deutlich senken lässt - es scheint, als sei man daran nicht wirklich interessiert.

Wir haben es hier also erneut mit einer "Pseudo-Debatte" zu tun, in der dem Bürger vorgegeben wird, wie er sich zu entcheiden hat: Für oder gegen DNS-Tests. Etwas anderes steht nicht zur Diskussion. Dem entsprechend wird auch argumentiert: Pro und Contra. Der Schutz des Bürgers vor Gewalt und Terror einerseits, sowie die bürgerlichen Grundrechte und Datenschutz andererseits.
Ich persönlich glaube jedenfalls nicht, dass sich ein Mörder vor der Tat Gedanken darüber macht, dass seine DNS-Merkmale in einer Datenbank gespeichert sind: Wer einen Mord plant, der wird ihn auch durchführen. So oder so. Und ich glaube auch nicht, dass sich die Attentäter vom 11. September Gedanken über ihre DNS-Spuren gemacht haben, bevor sie die Flugzeuge in die Wolkenkratzer lenkten.

Also: Ver-hin-dert wird dadurch rein gar nichts. Selbst, wenn Vergewaltiger durch ihre DNS-Spuren überführt und vor Gericht gebracht werden, verhindert das nicht, dass solche Menschen nach ihrer Entlassung fünf Jahre später die nächste Frau überfallen. Logischerweise geht es deshalb eben ganz sicher nicht um den "Schutz des Bürgers" vor Gewalt und Terror. Das möge man sich klar vor Augen führen. Sondern es geht um etwas völlig anderes: Es geht nicht darum, jemanden zu "schützen", sondern es geht um... mehr Effizienz. Um nichts anderes.

Es ist blanke Naivität, wenn jemand "pro DNS-Tests" ist, weil "man ja nichts befürchten hat, wenn man sich an die Gesetze hält" und ein braver Bürger bleibt.Wer das meint, der wird schlagartig eines Besseren belehrt werden, sobald in seiner näheren Umgebung ein Mord geschieht, und alle (meistens) Männer zu einem "freiwlligen Massen-Gen- Test" eingeladen werden. Wer nämlich daran nicht teilnimmt, gerät automatisch in den Kreis der Verdächtigen, und es wird ermittelt: Im Freundes- und Bekanntenkreis und am Arbeitsplatz. Ein unbescholtener Bürger gerät auf diese Weise in polizeiliche Ermittlungen, weil er ein reines Gewissen hat! Und weil er ein Grundrecht wahrgenommen hat. Und er wird sich wundern, wenn ein Freund oder Arbeitskollege ihn darüber informiert: "Du, gestern war die Kripo bei mir und hat mich nach Dir befragt. Gegen Dich wird ermittelt?". Die Kripo fragt den Betroffenen nicht, ob er damit einverstanden ist. So viel zum Märchen der "Unschuldsvermutung".

Diese gewisse Naivität ist weiter verbreitet als man es eigentlich glauben will. Zum Beispiel fällt kaum jemandem auf, wie viele Kameras in unseren Innenstädten installiert sind, und wie es allmählich immer mehr werden. Dazu hört man Kommentare, wie: "Ich finde das gut, weil das meinem Schutz dient". Ein interessantes Argument. Natürlich kann man darüber diskutieren, inwieweit eine Kamera abschreckend auf potenzielle Gewalttäter (also: schützend) wirkt. Dann sollte man jedoch ebenfalls darüber diskutieren, dass ein Polizeibeamter dieselbe Wirkung entfaltet. Mit dem entscheidenden Unterschied: Ein Polizist kann im Fall der Fälle ... eingreifen. Eine Kamera dagegen nicht.
Dennoch werden deutlich mehr Kameras installiert als Polizeibeamte eingestellt. Was das wohl für einen Grund haben mag. Natürlich: Die Installations- und Wartungskosten sind auf lange Sicht sehr viel geringer als die Kosten, die ein Polizeibeamter verursacht (Gehalt, Sozialaufwendungen, Pension etc). Und damit sind wir wieder bei der ... Effizienz (siehe oben): Die Effizienz ist wichtiger als der Schutz des Bürgers und sein Leib und Leben. Es entscheiden Kosten und Kalkulation darüber, dass Kameras installiert werden, die ein Verbrechen nur beobachten und aufzeichnen können - statt Polizeibeamte einzustellen, die die selben Verbrechen womöglich durch sofortiges Eingreifen verhindern könnten.

Nun gut: Man stelle sich vor, es würden sich auf den Straßen ebenso viele Polizisten befinden, wie Kameras installiert sind. Das Erscheinungsbild unserer Städte würde einem Polizeistaat gleichen. Kleine Kameras, die in irgendwelchen Ecken und an irgendwelchen Masten installiert sind, sind da natürlich weit weniger auffällig. Eben. So soll es sein.
Nahezu unmerklich (und: unmerklich zunehmend) werden wir beobachtet und auf Band aufgezeichnet. Unauffällig und ungefragt: In Banken, Postämtern, an Tankstellen, auf Bahnhöfen und Parkplätzen. Unauffällig, unmerklich, überall, ungefragt.

Zudem: Seit Beginn dieses Jahres ist das Lkw-Maut-System von "Toll Collect" in Betrieb. Das war eine schwere Geburt. Und so manch einer hat sich gefragt, warum unser Verkehrsminister trotz aller Peinlichkeiten an genau diesem System festhielt.Manch einer hat sich gefragt, warum es unbedingt ein derart kompliziertes, elektronisches, satelliten-gestütztes System sein muss - und nicht ein bedeutend einfacheres und preiswerteres (z.B. Vignetten-)System wie in Österreich etwa. Nein: Es ging bei dieser Aktion nicht darum, mit einer "Innovation" die deutsche Ingenieurkunst unter Beweis zu stellen. Und es ging auch nicht darum, "umweltpolitische Akzente zu setzen", wie es auf der Homepage von "Toll Collect" heißt, indem die Zahl der Achsen von Lkw in die Berechnung einbezogen wird.

Die Maut-Brücken sind mit Infrarot-Kameras ausgestattet, die zunächst jedes einzelne Fahrzeug scannen und 3-dimensional erfassen, und anschließend das Kennzeichen jedes einzelnen Fahrzeuges ins Visier nehmen(!). Es dürfte einleuchten, dass die zu erfassende, zu transportierende und zu verarbeitende Datenmenge e-n-o-r-m ist. Und genau das war das Problem, das dieses System fast zum Scheitern gebracht hätte. Und genau das ist gleichzeitig der Grund, warum an diesem System trotz aller Peinlichkeiten bis zuletzt festgehalten wurde:
Die Möglichkeit, jedes einzelne Fahrzeug zu scannen und dessen Kennzeichen zu erfassen - ob Lkw oder Pkw.Stichwort: "Bewegungsprofil". Der Bürger wird an jeder zweiten Straßenecke von Kameras erfasst. Neuerdings auch auf der Autobahn, wo zusätzlich das Kennzeichen gescannt wird. Jeder Euro, den man sich am Automaten auszahlen lässt, wird datentechnisch erfasst: Wieviel Geld an welchem Automaten zu welcher Uhrzeit. Wer ein Mobiltelefon ("Handy") besitzt, der kann mit einer Genauigkeit von 50 bis 800 Metern jederzeit geortet werden, je nach Dichte der Sendeanlagen.

Natürlich, natürlich: Es gibt so etwas wie "Datenschutz", der vorschreibt, dass diverse Daten nicht oder nicht länger als im Einzelfall notwendig gespeichert werden dürfen. Jedes Telefonat, das Sie führen, wird von Ihrer Telefongesellschaft in eine zentrale Datenstelle nach Mannheim geleitet und dort 3 Monate lang gespeichert - ob Festnetz oder Mobil-Telefonat ist dabei unerheblich. Auf Anfrage werden Sie von Ihrer Telefongesellschaft die Auskunft bekommen, dass das gesetzliche Vorschrift sei. Jedoch geht es auch hierbei mitnichten um den "Schutz des Bürgers", respektive "Verbraucherschutz" - auch wenn gerne darauf hingewiesen wird, dass die 3-monatige Speicherung es ermöglicht, etwaige Reklamationen leichter zu bearbeiten. Sondern es geht darum, dass im Falle von Straftaten exact rekonstruiert werden kann, wer wann mit wem wie lange telefoniert hat. Der unbescholtene Bürger als "potenzieller Straftäter"(?) ... der (natürlich: "rein sicherheitshalber präventiv") an jeder zweiten Straßenecke gefilmt wird, dessen Bewegungsprofile und Telefonate gespeichert werden, der auf 50 bis 800 Meter genau lokalisiert werden kann ... der neuerdings (vorerst nur) auf dem Frankfurter Flughafen per Netzhaut-Scan(!) quasi "im Vorbeigehen" identifiziert werden kann ... der demnächst (vorerst nur) seine Fingerabdrücke abgeben darf, weil zukünftig jeder Personalausweis damit ausgestattet sein wird.

Der unbescholtene Bürger als "potenzieller Straftäter" ... das muss nicht in dieser aktuellen DNS-Debatte ausdiskutiert werden ... das ist bereits Realität. Insofern ist die Erfassung der genetischen und so genannten "biometrischen Daten" jedes(!) einzelnen(!) Bürgers eine Pseudo-Diskussion. Denn es ist zweitrangig, dafür einen Kompromiss zu finden - es wäre sinnvoller, diese Diskussion zu nutzen, um sich mit dem Gesamtproblem zu beschäftigen.

Dienstag, 11. Januar 2005

Die Tsunami-Welle

Der Begriff "Tsunami" stammt aus dem Japanischen und heißt zu Deutsch "Hafenwelle", wird aus Gründen der Dramatisierung allerdings auch gern "Monsterwelle" genannt. Der kürzliche, verheerende Tsunami in Ostasien hat dafür gesorgt, dass dieses Naturphänomen zurzeit im Mittelpunkt der Medienberichterstattung steht.
Wichtiger Hinweis vorab: Wie Sie wissen, denke ich "anders". Weshalb ich im Folgenden wieder einmal die "Gefahr" eingehe, gehörig missverstanden zu werden. Ich weise explizit darauf hin: Wer womöglich zu der Meinung gelangen sollte, mir wäre das Schicksal der Betroffenen "egal" (o.ä.), der kann sicher sein, mich missverstanden zu haben.

An Weihnachten hat also ein Seebeben eine Menge Wasser in Bewegung gebracht. Mit ein wenig Hintergrundwissen weiß man, dass ein Tsunami u.a. erst bei einem Beben der Mindeststärke 7 auf der Richterskala ausgelöst wird, eine Wellenhöhe von mehr als 100 Metern erzeugen und eine Geschwindigkeit von über 700 km/h erreichen kann, errechnet aus der Wurzel des Produktes von Wassertiefe mal Erdbeschleunigung. Der kürzliche Tsunami in Ostasien hat nach Medienberichten womöglich bis zu 150.000 Menschen das Leben gekostet und die Existenzgrundlage etlicher Überlebender zerstört, vor allem in Thailand, Indien, auf Sri Lanka und Sumatra.
Wie Sie sich womöglich erinnern, stieg die Angabe der Zahl von Toten nahezu stündlich: Zunächst waren es "mindestens 1.000 Menschen", dann 2.000, 4.000, 10.000, 26.000, am Ende des letzten Jahres 130.000, und inzwischen laut Schätzungen nunmehr "womöglich bis zu 150.000". Nun stelle ich mir die Frage: Im Gegensatz zu den ebenfalls von Tsunamis bedrohten Staaten USA und Japan, waren die nun betroffenen ostasiatischen Länder bisher nicht in der Lage, ein elektronisches Tsunami-Warnsystem aufzubauen...
...scheinen jedoch ein nahezu perfektes datentechnisches Einwohnermelde-Register zu besitzen(?).Wie sonst wäre es möglich, die Zahl der Toten so schnell zu ermitteln? Diese Frage ist natürlich rhetorisch. Denn weder besitzen diese Länder ein Einwohnermelderegister, wie wir es in Deutschland kennen, noch kennt man die Zahl der getöteten Menschen. Es handelt sich um reine Schätzungen. Und genau hier lohnt es sich bereits zum ersten Mal, die nun aus dem Eindruck der Katastrophe entstandene (natürlich: berechtigte) allgemeine, emotionale Aufregung und die sich überschlagenden Medien-Meldungen ein wenig rationeller zu hinterfragen.

Schauen wir also ein wenig genauer hin: Eine Meldung von "schätzungsweise bis zu 150.000 Toten" ist natürlich erschreckend. Und das s-o-l-l eine solche Meldung nun einmal auch sein: Mit derartigen Schlagzeilen und den dazugehörigen Bildern lassen sich nicht nur Zeitungen besser verkaufen. Wie sagte noch gestern Abend ein Journalist: "Bad News Are Good News".Und ein Verantwortlicher des US-Nachrichtensenders CNN war sogar "stolz" die "Wichtigkeit dieser Katastrophe vom ersten Moment an erkannt zu haben" und bezeichnete das Ganze auch noch als "großartigen Erfolg". Das ist eben das Business. Und wer sich bereits etwas intensiver mit Mr. Neil Postman beschäftigt hat, der weiß, dass auch Fernsehsender gerne zu Dramatisierungen aller Art greifen: Nachrichten- und Sonder- Sendungen brauchen gute Einschaltquoten. Nicht zuletzt deshalb sind die Reporter vor Ort auf der makaberen Jagd nach diversen Amateurvideos - je dramatischer die Meldungen und Bilder, desto "besser". Ich persönlich hege deshalb auch arge Zweifel an dieser(!) Zahl von getöteten Menschen. Ich halte es durchaus für möglich, dass die Zahl der Toten weitaus geringer ist, ohne (natürlich) damit irgendetwas "beschönigen" zu wollen.
Und kaum, dass ich das gerade in mein Tagebuch notiert habe, kommt folgende Meldung über die Ticker: "Auf Grund einer schlechten Funkverbindung soll es zu falschen Angaben über Opferzahlen in Indonesien gekommen sein. Zuerst wurde die Zahl um 20.000 erhöht, dann jedoch wieder zurückgenommen". Diese enorme Dramatik der Schreckensmeldungen durchzieht im Augenblick(!) (noch) sämtliche Medien und Kanäle, und wird auf diese Weise den Menschen in ihr Bewusstsein gehämmert. Auch das ist natürlich nicht "falsch". Doch auch das hat durchaus bemerkenswerte ( = "Wert, bemerkt zu werden") Nebeneffekte:

Konjunkturflaute, Arbeitslosenzahlen, Hartz IV und Lkw-Maut? Wen interessiert das noch? Die Aufmerksamkeit ist abgelenkt. Was sagte diese Frau, die irgendwo auf der Einkaufsstraße von einem Reporter zu der Tsunami-Katastrophe befragt wurde: "Wenn man solche Meldungen hört und die Bilder im Fernsehen sieht, merkt man erst, wie gut es uns in Deutschland geht". Aha? Sieh an. Abgesehen davon, wie recht diese Frau hat: Es bleibt abzuwarten, ob sich die Menschen daran erinnern werden, "wie gut es uns in Deutschland geht", wenn die nächsten Reformen und Einschnitte angekündigt werden. Denn schließlich: "PISA, Arbeitslose und Haushaltslöcher hin oder her: Seht, wie gut es uns doch geht". Ich stelle fest, dass - völlig unabhängig vom Leid und Elend im betroffenen Gebiet - zurzeit gerade eine allgemeine Verblendung stattfindet, die sich nicht zuletzt auch auf die Spendenbereitschaft der Deutschen auswirkt: Natürlich ist das alles andere als "falsch", die Betroffenen unterstützen zu wollen. Jedoch:
Leicht stutzig gemacht (wenn auch nicht wirklich gewundert) hat mich eine Äußerung des Sprechers des Deutschen Roten Kreuzes: "Nein, die Leute sollen bitte keine Sachspenden leisten, sondern nur Geld spenden". Aha. Auf die Frage, wie das Deutsche Rote Kreuz etwa in Thailand Hilfe leistet, antwortete der Sprecher: "Wir helfen dort vor allem erst einmal mit Decken und Zelten". Aha. Man soll also Geld spenden. Sonst nichts. Wenn ich alle meine Wolldecken und Zelte zur Verfügung stellen möchte: Nein, danke. Auch meine persönliche Arbeitskraft ist nicht gefragt.

Es wird der Eindruck vermittelt: "Geld hilft am besten". Und: "Je mehr Geld, desto besser". Aha.Irgendein Moderator irgendeines Dritten Fernsehprogrammes hat in einer der unzähligen Spendenshows doch tatsächlich gesagt: "Hier rufen Leute an, die danach fragen, ob es nicht auch die Möglichkeit gäbe, selbst vor Ort Hilfe zu leisten statt Geld zu spenden", und meinte darauf "Das ist natürlich Unsinn, weil man den Helfern dort nur im Weg stehen würde". Eine interessante Begründung. Ob man das den betroffenen Einwohnern, die ihr restliches Hab und Gut zusammensammeln und ihr Häuschen wieder aufbauen wollen, wohl auch sagt: "Leute, wir würden euch gern helfen, aber ihr steht uns nur im Weg"? Der Eindruck, der hier wie dort in aller Penetranz vermittelt wird, ist: "Geld hilft am besten" und "Je mehr Geld, desto besser".

Der Eindruck, der vermittelt wird, ist: "Mit (genügend) Geld sind alle Probleme lösbar".Dieser Eindruck ist natürlich falsch. Und dieser falsche Eindruck wird permanent über alle möglichen Kanäle erzeugt. Und dieser ohnehin bereits falsche Eindruck wird noch falscher, wenn sich unser Außenminister Joschka Fischer vor die Presse stellt, und verkündet: "Die deutsche Hilfe von 500 Millionen Euro soll nicht nur den Tsunami-Opfern helfen, sondern auch dazu beitragen, die dortigen Krisenregionen zu befrieden". Aha. Herr Fischer sprach von Sri Lanka und Sumatra, wo seit Jahrzehnten Bürgerkriege herrschen.
Siehe oben: "Mit genügend Geld sind alle Probleme lösbar". Und jetzt lassen sich offenbar sogar Kriege verhindern und/oder auflösen, indem man einige Millionen Euro überweist. So einfach ist das. Nein. So "einfach" ist das natürlich nicht. Das weiß im Grunde jeder. Aber wer will "im Angesicht dieser Katastrophe" schon kritisch nachfragen? Eben. Weshalb sich das allgemeine Bewusstsein auch auf die Spendenbereitschaft konzentriert und auf sonst nichts. Und das ist falsch. Mir ist bewusst, dass die Menschen helfen wollen. Und das ist auch gut so. Und ganz sicher ist jeder Euro hilfreich, um in den vom Tsunami betroffenen Gebieten Hilfe zu leisten. Es ist jedoch definitiv falsch zu meinen, dass "nur genügend Geld gesammelt" werden muss, um sämtliche Probleme lösen zu können.

Es wird noch etwas völlig anderes gebraucht als Geld, über das in den Medien kein Wort verloren wird, und an das kaum jemand überhaupt einen einzigen Gedanken zu verschwenden scheint: Ein Umdenken nämlich. Sagen wir einmal so: Was passiert eigentlich mit dem Geld?
Natürlich: Es wird immer wieder sehr schön betont, dass jeder gespendete Euro "auch ankommt" (eine Betonung, die bereits verdächtig genug ist). Doch eben: Was passiert eigentlich mit jedem Euro, der "auch ankommt"? Zunächst einmal werden die Touristen-Zentren und die dazugehörige Infrastruktur wieder aufgebaut. Jedoch:
Wer sich ein wenig auskennt, der weiß, dass um diese Touristen-Zentren herum gewaltige Armuts- und Elendsgebiete lagen: Menschen, die in Holz- und Lehmhütten lebten. Was wird hier nun passieren? Mit dem ganzen Geld? Was wird passieren? Bekommen die Menschen ihre Armutsgebiete zurück? Baut man ihnen die Holz- und Lehmhütten wieder auf? Oder nutzt man das Geld, um den Armen nun endlich ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen? Diese Frage ist rhetorisch. Denn das, was passieren wird, ist der Wiederaufbau der Touristen-Zentren, inklusive der Hotel- Anlagen. Die, die bisher arm waren und in Holz- und Lehmhütten hausen mussten, werden weiterhin arm bleiben und sich wieder neue Hütten bauen müssen. Und das ist extrem bedenklich. Anders formuliert: Das w-ä-r-e extrem bedenklich. Doch offenkundig ist es nicht erwünscht, darüber nachzudenken. Ansonsten sähen sowohl die Berichte in den Medien als auch die Politikeräußerungen anders aus. Und d-a-s-s das nicht erwünscht ist, sondern die Menschen mit dem Eindruck ge- und verblendet werden, "mit (genügend) Geld sind alle Probleme lösbar", ist noch weitaus bedenklicher.