Dienstag, 11. Januar 2005

Die Tsunami-Welle

Der Begriff "Tsunami" stammt aus dem Japanischen und heißt zu Deutsch "Hafenwelle", wird aus Gründen der Dramatisierung allerdings auch gern "Monsterwelle" genannt. Der kürzliche, verheerende Tsunami in Ostasien hat dafür gesorgt, dass dieses Naturphänomen zurzeit im Mittelpunkt der Medienberichterstattung steht.
Wichtiger Hinweis vorab: Wie Sie wissen, denke ich "anders". Weshalb ich im Folgenden wieder einmal die "Gefahr" eingehe, gehörig missverstanden zu werden. Ich weise explizit darauf hin: Wer womöglich zu der Meinung gelangen sollte, mir wäre das Schicksal der Betroffenen "egal" (o.ä.), der kann sicher sein, mich missverstanden zu haben.

An Weihnachten hat also ein Seebeben eine Menge Wasser in Bewegung gebracht. Mit ein wenig Hintergrundwissen weiß man, dass ein Tsunami u.a. erst bei einem Beben der Mindeststärke 7 auf der Richterskala ausgelöst wird, eine Wellenhöhe von mehr als 100 Metern erzeugen und eine Geschwindigkeit von über 700 km/h erreichen kann, errechnet aus der Wurzel des Produktes von Wassertiefe mal Erdbeschleunigung. Der kürzliche Tsunami in Ostasien hat nach Medienberichten womöglich bis zu 150.000 Menschen das Leben gekostet und die Existenzgrundlage etlicher Überlebender zerstört, vor allem in Thailand, Indien, auf Sri Lanka und Sumatra.
Wie Sie sich womöglich erinnern, stieg die Angabe der Zahl von Toten nahezu stündlich: Zunächst waren es "mindestens 1.000 Menschen", dann 2.000, 4.000, 10.000, 26.000, am Ende des letzten Jahres 130.000, und inzwischen laut Schätzungen nunmehr "womöglich bis zu 150.000". Nun stelle ich mir die Frage: Im Gegensatz zu den ebenfalls von Tsunamis bedrohten Staaten USA und Japan, waren die nun betroffenen ostasiatischen Länder bisher nicht in der Lage, ein elektronisches Tsunami-Warnsystem aufzubauen...
...scheinen jedoch ein nahezu perfektes datentechnisches Einwohnermelde-Register zu besitzen(?).Wie sonst wäre es möglich, die Zahl der Toten so schnell zu ermitteln? Diese Frage ist natürlich rhetorisch. Denn weder besitzen diese Länder ein Einwohnermelderegister, wie wir es in Deutschland kennen, noch kennt man die Zahl der getöteten Menschen. Es handelt sich um reine Schätzungen. Und genau hier lohnt es sich bereits zum ersten Mal, die nun aus dem Eindruck der Katastrophe entstandene (natürlich: berechtigte) allgemeine, emotionale Aufregung und die sich überschlagenden Medien-Meldungen ein wenig rationeller zu hinterfragen.

Schauen wir also ein wenig genauer hin: Eine Meldung von "schätzungsweise bis zu 150.000 Toten" ist natürlich erschreckend. Und das s-o-l-l eine solche Meldung nun einmal auch sein: Mit derartigen Schlagzeilen und den dazugehörigen Bildern lassen sich nicht nur Zeitungen besser verkaufen. Wie sagte noch gestern Abend ein Journalist: "Bad News Are Good News".Und ein Verantwortlicher des US-Nachrichtensenders CNN war sogar "stolz" die "Wichtigkeit dieser Katastrophe vom ersten Moment an erkannt zu haben" und bezeichnete das Ganze auch noch als "großartigen Erfolg". Das ist eben das Business. Und wer sich bereits etwas intensiver mit Mr. Neil Postman beschäftigt hat, der weiß, dass auch Fernsehsender gerne zu Dramatisierungen aller Art greifen: Nachrichten- und Sonder- Sendungen brauchen gute Einschaltquoten. Nicht zuletzt deshalb sind die Reporter vor Ort auf der makaberen Jagd nach diversen Amateurvideos - je dramatischer die Meldungen und Bilder, desto "besser". Ich persönlich hege deshalb auch arge Zweifel an dieser(!) Zahl von getöteten Menschen. Ich halte es durchaus für möglich, dass die Zahl der Toten weitaus geringer ist, ohne (natürlich) damit irgendetwas "beschönigen" zu wollen.
Und kaum, dass ich das gerade in mein Tagebuch notiert habe, kommt folgende Meldung über die Ticker: "Auf Grund einer schlechten Funkverbindung soll es zu falschen Angaben über Opferzahlen in Indonesien gekommen sein. Zuerst wurde die Zahl um 20.000 erhöht, dann jedoch wieder zurückgenommen". Diese enorme Dramatik der Schreckensmeldungen durchzieht im Augenblick(!) (noch) sämtliche Medien und Kanäle, und wird auf diese Weise den Menschen in ihr Bewusstsein gehämmert. Auch das ist natürlich nicht "falsch". Doch auch das hat durchaus bemerkenswerte ( = "Wert, bemerkt zu werden") Nebeneffekte:

Konjunkturflaute, Arbeitslosenzahlen, Hartz IV und Lkw-Maut? Wen interessiert das noch? Die Aufmerksamkeit ist abgelenkt. Was sagte diese Frau, die irgendwo auf der Einkaufsstraße von einem Reporter zu der Tsunami-Katastrophe befragt wurde: "Wenn man solche Meldungen hört und die Bilder im Fernsehen sieht, merkt man erst, wie gut es uns in Deutschland geht". Aha? Sieh an. Abgesehen davon, wie recht diese Frau hat: Es bleibt abzuwarten, ob sich die Menschen daran erinnern werden, "wie gut es uns in Deutschland geht", wenn die nächsten Reformen und Einschnitte angekündigt werden. Denn schließlich: "PISA, Arbeitslose und Haushaltslöcher hin oder her: Seht, wie gut es uns doch geht". Ich stelle fest, dass - völlig unabhängig vom Leid und Elend im betroffenen Gebiet - zurzeit gerade eine allgemeine Verblendung stattfindet, die sich nicht zuletzt auch auf die Spendenbereitschaft der Deutschen auswirkt: Natürlich ist das alles andere als "falsch", die Betroffenen unterstützen zu wollen. Jedoch:
Leicht stutzig gemacht (wenn auch nicht wirklich gewundert) hat mich eine Äußerung des Sprechers des Deutschen Roten Kreuzes: "Nein, die Leute sollen bitte keine Sachspenden leisten, sondern nur Geld spenden". Aha. Auf die Frage, wie das Deutsche Rote Kreuz etwa in Thailand Hilfe leistet, antwortete der Sprecher: "Wir helfen dort vor allem erst einmal mit Decken und Zelten". Aha. Man soll also Geld spenden. Sonst nichts. Wenn ich alle meine Wolldecken und Zelte zur Verfügung stellen möchte: Nein, danke. Auch meine persönliche Arbeitskraft ist nicht gefragt.

Es wird der Eindruck vermittelt: "Geld hilft am besten". Und: "Je mehr Geld, desto besser". Aha.Irgendein Moderator irgendeines Dritten Fernsehprogrammes hat in einer der unzähligen Spendenshows doch tatsächlich gesagt: "Hier rufen Leute an, die danach fragen, ob es nicht auch die Möglichkeit gäbe, selbst vor Ort Hilfe zu leisten statt Geld zu spenden", und meinte darauf "Das ist natürlich Unsinn, weil man den Helfern dort nur im Weg stehen würde". Eine interessante Begründung. Ob man das den betroffenen Einwohnern, die ihr restliches Hab und Gut zusammensammeln und ihr Häuschen wieder aufbauen wollen, wohl auch sagt: "Leute, wir würden euch gern helfen, aber ihr steht uns nur im Weg"? Der Eindruck, der hier wie dort in aller Penetranz vermittelt wird, ist: "Geld hilft am besten" und "Je mehr Geld, desto besser".

Der Eindruck, der vermittelt wird, ist: "Mit (genügend) Geld sind alle Probleme lösbar".Dieser Eindruck ist natürlich falsch. Und dieser falsche Eindruck wird permanent über alle möglichen Kanäle erzeugt. Und dieser ohnehin bereits falsche Eindruck wird noch falscher, wenn sich unser Außenminister Joschka Fischer vor die Presse stellt, und verkündet: "Die deutsche Hilfe von 500 Millionen Euro soll nicht nur den Tsunami-Opfern helfen, sondern auch dazu beitragen, die dortigen Krisenregionen zu befrieden". Aha. Herr Fischer sprach von Sri Lanka und Sumatra, wo seit Jahrzehnten Bürgerkriege herrschen.
Siehe oben: "Mit genügend Geld sind alle Probleme lösbar". Und jetzt lassen sich offenbar sogar Kriege verhindern und/oder auflösen, indem man einige Millionen Euro überweist. So einfach ist das. Nein. So "einfach" ist das natürlich nicht. Das weiß im Grunde jeder. Aber wer will "im Angesicht dieser Katastrophe" schon kritisch nachfragen? Eben. Weshalb sich das allgemeine Bewusstsein auch auf die Spendenbereitschaft konzentriert und auf sonst nichts. Und das ist falsch. Mir ist bewusst, dass die Menschen helfen wollen. Und das ist auch gut so. Und ganz sicher ist jeder Euro hilfreich, um in den vom Tsunami betroffenen Gebieten Hilfe zu leisten. Es ist jedoch definitiv falsch zu meinen, dass "nur genügend Geld gesammelt" werden muss, um sämtliche Probleme lösen zu können.

Es wird noch etwas völlig anderes gebraucht als Geld, über das in den Medien kein Wort verloren wird, und an das kaum jemand überhaupt einen einzigen Gedanken zu verschwenden scheint: Ein Umdenken nämlich. Sagen wir einmal so: Was passiert eigentlich mit dem Geld?
Natürlich: Es wird immer wieder sehr schön betont, dass jeder gespendete Euro "auch ankommt" (eine Betonung, die bereits verdächtig genug ist). Doch eben: Was passiert eigentlich mit jedem Euro, der "auch ankommt"? Zunächst einmal werden die Touristen-Zentren und die dazugehörige Infrastruktur wieder aufgebaut. Jedoch:
Wer sich ein wenig auskennt, der weiß, dass um diese Touristen-Zentren herum gewaltige Armuts- und Elendsgebiete lagen: Menschen, die in Holz- und Lehmhütten lebten. Was wird hier nun passieren? Mit dem ganzen Geld? Was wird passieren? Bekommen die Menschen ihre Armutsgebiete zurück? Baut man ihnen die Holz- und Lehmhütten wieder auf? Oder nutzt man das Geld, um den Armen nun endlich ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen? Diese Frage ist rhetorisch. Denn das, was passieren wird, ist der Wiederaufbau der Touristen-Zentren, inklusive der Hotel- Anlagen. Die, die bisher arm waren und in Holz- und Lehmhütten hausen mussten, werden weiterhin arm bleiben und sich wieder neue Hütten bauen müssen. Und das ist extrem bedenklich. Anders formuliert: Das w-ä-r-e extrem bedenklich. Doch offenkundig ist es nicht erwünscht, darüber nachzudenken. Ansonsten sähen sowohl die Berichte in den Medien als auch die Politikeräußerungen anders aus. Und d-a-s-s das nicht erwünscht ist, sondern die Menschen mit dem Eindruck ge- und verblendet werden, "mit (genügend) Geld sind alle Probleme lösbar", ist noch weitaus bedenklicher.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen