Donnerstag, 10. Februar 2005

Wie Unfug zum Erfolg wird

Wieder einmal berichten Wissenschaftler voller Eigenlob von einem grandiosen Erfolg. Und wieder einmal zeigt sich: In der Wissenschaft zählt es sogar als Erfolg, völlig daneben zu liegen. In dem aktuellen Fall wissenschaftlicher Tatsachenverdrehung geht es um die Lawinenforschung: Mit einer mathematischen Formel wird die Katastrophe jetzt berechenbar. Angeblich.

Wie man weiß: Lawinen sind eines der erstaunlichsten Naturphänomene. Allerdings können sie auch lebensgefährlich sein, wenn man sich zufällig darin befindet. Als Skifahrer etwa. Wie man ebenfalls weiß, kann sich der Mensch einfach nicht damit abfinden, der Natur machtlos gegenüberzustehen. Deshalb genügt es auch nicht, Menschen schlicht und einfach aus Lawinengebieten fernzuhalten, sondern man "muss irgendetwas tun", um Lawinen berechenbar zu machen. Schneeforscher versuchen deshalb zu berechnen, wie eine Lawine entsteht, wo sie zum Stehen kommt, welche Zerstörungskraft sie besitzt und welche Gebiete ein "sicheres Bauen" ermöglichen.
Genau dieser Aufgabe widmete sich der französische Forscher Frédéric Ousset mitsamt seinem Team. Und wie heute zu lesen: Mit Erfolg! Eine Formel ermöglicht nun die computergestützte Berechnung des Verhaltens einer Lawine. Angeblich.
Tatsächlich jedoch wird - wie immer: bei etwas genauerem Hinschauen - sehr deutlich, dass hier wieder einmal grober Unfug als "Erfolg" verkauft wird. Die allgemein verbreitete Wissenschaftsgläubigkeit wird ausgenutzt, um der Mehrheit der wissenschaftlichen Laien einen "Erfolg" unterzujubeln, der keiner ist. Umso schlimmer, wenn diese Mehrheit der Laien das auch noch bereitwilligt glaubt, weil das schließlich "wissenschaftlich erwiesen" ist.

Folgendes: Zunächst einmal hat dieser französische Forscher namens Frédéric Ousset seine Forschungsarbeit folgendermaßen erklärt: "Wir können die Versuche nur nachts machen, weil die Sonne die Kristalle verändern würde und die Messergebnisse wären dahin". Aha. Das ist aber unpraktisch, nicht wahr: Die Sonne würde die Messergebnisse zunichte machen. Verflixt aber auch, dass die Sonne Einfluss auf die Naturgeschehnisse hat, und sich Lawinen nun einmal in der Natur befinden und nicht im Labor.
An dieser Stelle dürfen wir also zunächst erst einmal ganz neutral feststellen, dass es zwischen Lawinen in der Nacht und Lawinen am Tag einen bedeutenden Unterschied gibt, der durch die Sonnenstrahlung entsteht. Monsieur Oussets Messungen (und damit eben auch seine Formel) gelten also - wenn überhaupt - für Lawinen, die nachts den Berg hinunterrauschen - nicht am Tag. Das wird "natürlich" nicht explizit erwähnt, das muss man zwischen den Zeilen lesen.

Zum anderen hängt das Verhalten von Lawinen von Einflüssen ab, die sich an Miniatur-Lawinen im Labor nicht künstlich herstellen lassen, wie etwa die turbulente Staubkrone einer solchen Lawine. Monsieur Ousset hat das deshalb anders simuliert. Und zwar nämlich in einem überdimensionalen Aquarium mit 20 Kubikmeter Wasser (das den Luftwiderstand ersetzen soll) und mit Quarzsand (der den Schnee ersetzen soll): "Die Wirbel haben zwar nicht das Tempo wie an der Luft, ihre Bewegungen sind aber fast wie im Freien", so Ousset.
Eben: "fast". Nicht identisch. Sondern: "fast". Selbst der Laie sollte nachvollziehen können, dass Wasser nicht Luft, und Quarzsand nicht Schnee ist. Es mag sich ähneln, aber das eine ist mitnichten das andere. Monsieur Ousset dürfte also allenfalls einen Preis für Ideenreichtum bekommen: Seine Formel basiert einserseits auf den Messungen von ausschließlich nächtlichen Lawinen, sowie andererseits auf dem Verhalten von Quarzsand im Wasser, und nicht auf dem Verhalten von Schnee auf einem Berg.

Natürlich: Ideenreich. Und immerhin: Man nähert sich der Realität. Das ist aber auch alles. Unter dem Strich steht die Tatsache: Das Verhalten von Lawinen ist nicht berechenbar. Punkt. Das Gegenteil jedoch wird behauptet. Doch es kommt noch besser:
Natürlich hat Monsieur Ousset das Ganze auch praktisch getestet, um die Richtigkeit seiner Formel zu "beweisen". Laut Bericht begab man sich dafür nach Norwegen zu einem "Test- Gelände", das "bis auf den Zentimeter genau vermessen" ist. Das französische Forscherteam hat dann den Computer mit den notwendigen exacten Angaben der dortigen Bedingungen (u.a. die Art und Mächtigkeit des Schnees an einem Hang) gefüttert und mittels ihrer Formel das Verhalten einer Lawine berechnet. Anschließend zündeten sie einen Sprengsatz, lösten damit eine Lawine aus, und verglichen die Formel-Berechnung mit dem realen, tatsächlichen Lawinenabgang. Das Ergebnis: "Unsere Computerprognosen lagen mal nur um fünf, mal um zehn Meter neben der tatsächlichen Reichweite der Lawine". Ein toller Erfolg, der die Richtigkeit der Formel in der Praxis bewiesen hat. Oder?

Lesen Sie selbst noch einmal nach: Durchgeführt wurde das Ganze auf einem Testgelände, das "bis auf den Zentimeter genau vermessen" ist. Betonung: Bis auf den Zentimeter genau. Und: Die mittels Formel berechnete Prognose lag "mal nur um fünf, mal um zehn Meter" daneben. "Nur" um fünf Meter, und "nur" um zehn Meter. Betonung: Meter. Nicht: Zentimeter.
Im Klartext heißt das: 5 Meter sind 500 Zentimeter und 10 Meter sind 1000 Zentimeter. Das ist die auf Zentimeter umgerechnete Abweichung der Prognose von der Realität. Eine Abweichung von 500 bis 1000 Zentimetern auf einem Gelände, das bis auf den Zentimeter genau vermessen ist... Diese Formel weicht also um das 500 bis 1000-fache von der Realität ab. Das ist exact so, als wenn Sie Ihre monatlichen Fix-Kosten bis auf den Euro genau ausrechnen ... und am Monatsende zwischen 500 und 1000 Euro daneben liegen. Würden Sie das auch als Erfolg bezeichnen?

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