Dienstag, 23. August 2005

Gefühlter Verstand

Seit ein paar Monaten ist das Gerangel um den Chefsessel im Kanzleramt in vollem Gange. Und wenn man den Medien glauben darf: Es herrscht Wechselstimmung. Aber: Darf man das eigentlich? Den Medien glauben? Der regelmäßige Leser kennt meine leicht kritische Haltung gegenüber allem, was angeblich oder tatsächlich "offensichtlich" ist - weil das offen Sichtliche nicht selten auch oberflächlich ist. Ein Blick unter diese Oberfläche dessen, was einem an allen Ecken und Enden in die Augen und Ohren gedrückt wird, kann deshalb eigentlich nicht schaden. Eher im Gegentum.

Die inzwischen fast täglich veröffentlichten Umfrageergebnisse sind zum Beispiel bestens dazu geeignet, um zu erkennen, dass es sich dabei um nichts anderes als ein Lesen im Kaffeesatz handelt. Aber immerhin: "Wissenschaftlich und repräsentativ". Exact das nämlich ist die Erklärung für das Paradoxon, dass die Unionsparteien im Osten Deutschlands angeblich prozentual zugelegt haben, obwohl die Herren Schönbohm und Stoiber über genau diese Ostdeutschen kräftig hergezogen haben. Wenn über Menschen, die in Gebieten mit regionalen Besonderheiten leben, mit einiger Abfälligkeit und Überheblichkeit gelästert wird, sollte man eigentlich erwarten können, dass das nicht gerade gut ankommt.
Laut aktueller Umfragen jedoch ist das Gegenteil der Fall. Nun könnte man das als Bestätigung für die Dummheit der Ostdeutschen sehen. Ich persönlich neige allerdings vielmehr dazu, das als weiteren Nachweis für die Verzichtbarkeit und Belanglosigkeit dieser (und anderer) Umfragen zu verwenden.

Was zum Beispiel soll man eigentlich mit der (laut verkündeten) Information anfangen, dass aktuell die SPD mit 29% völlig chancenlos und abgeschlagen sein soll - wenn es gleichzeitig (deutlich leiser) heißt, dass die Hälfte aller Wahlberechtigten sich noch nicht entschieden hat? Zumindest rein theoretisch könnte die SPD damit am Wahltag auch bei 79% liegen. Und weniger theoretisch, sondern sehr praktisch kann damit auch jede Umfrage täglich anders aussehen und die SPD irgendwo zwischen 29 und 79% ausweisen.
Was dann immerhin für die jeweiligen "Meinungsforschungsinstitute" und Medien der immensen Vorteil hat, potenziell tagtäglich von "neuen Entwicklungen" berichten zu können. Und nur darum geht es. Es geht nicht darum, die Öffentlichkeit zu informieren. Es geht für die beauftragten Institute um weitere Aufträge. Also: Um Geld. Und für die Medien um ("neue") Meldungen und Schlagzeilen und Einschaltquoten und Auflagen. Also: Ebenfalls um Geld.

Wie auch bei diversen "TV-Duellen". Hauptsache, der Stammtisch hat wieder etwas zu diskutieren. Wenn man den Politikern aller Parteien glauben soll, dann geht es jedoch um etwas anderes. Nämlich in erster Linie um Wachstum und Arbeitsplätze. Und in zweiter Linie darum, auf "soziale" und "gerechte" Weise für dieses Wachstum und für diese Arbeitsplätze zu sorgen. Das Wahlvolk scheint Herrn Schröder das nicht (mehr) zuzutrauen - glaubt man den Umfragen. Jedoch: Der Union genausowenig. Nichtsdestotrotz herrscht "Wechselstimmung": Schröder muss weg. Mit "HartzIV" ist schließlich nichts besser geworden. Und überhaupt: Das Wetter in diesem Sommer ist auch ganz miserabel. Grund genug(?), um "einmal andere an´s Ruder zu lassen".

Wenn diverse Wähler aus Frust über "HartzIV" dann von Herrn Schröder zu Frau Merkel überlaufen, die öffentlich bestätigt: "HartzIV kann nur der Anfang gewesen sein", muss man sich eigentlich fragen, ob man nicht in Zukunft zwischen "Wahlberechtigten" und "Wahlfähigen" unterscheiden sollte. Und wenn Frau Merkel ebenso öffentlich verkündet, sie könne weder Wachstum noch Arbeitsplätze schaffen, sondern könne nur versprechen, dass sie sich "darum bemühen" werde, dann ist dieser Null-Unterschied zu Schröder mehr als bezeichnend. Eigentlich.

Ebenso bezeichnend wie der Kommentar von Klaus-Peter Schöppner, Chef des Meinungsforschungsinstituts "TNS Emnid", der von einer "Kommunikationsverarschung des Wählers" spricht: "Das Verhalten der Wähler wird immer willkürlicher: Heute wird CDU gewählt, weil man SPD nicht mehr wählen kann. Nicht mehr der Kampf um den richtigen politischen Weg, sondern das Bauchgefühl, fast eine Zufallslaune der Geschichte, entscheidet die Wahlen. Und wenn bis zur Wahl noch irgendwo ein schwarzer Koffer gefunden wird, sind die Wahlen wieder ganz offen. Denn: Der Zufall entscheidet", so Schöppner in einem SPIEGEL-Interview.
Einerseits könnte man sich nun fragen, warum Herr Schöppner angesichts seiner Meinung überhaupt mit Meinungsforschung sein Geld verdient. Oder warum Umfrage-Ergebnisse nicht mit dem Hinweis versehen sind: "Korrektheit vom Zufall abhängig". Andererseits zeigt das Ganze eindrucksvoll, wie der "gefühlte Verstand" im Wahlvolk nicht nur darüber bestimmt, wer demnächst im Kanzlersessel sitzt. Sondern dass "gefühlter Verstand" die Grundlage für Entscheidungen ist. Und damit dafür, wie unser aller Zukunft aussehen wird.

Gefühlter Verstand: Wir entscheiden und handeln aus dem Bauch - doch wir finden in jedem Fall etliche rationale Vernunftgründe für diese Entscheidungen, wenn es sein muss. Ergebnisse sind Zufall und unkalkulierbar - aber wir tun einfach mal so, als hätten wir Durchblick. Wie sähe das schließlich auch aus, wenn wir uns eingestehen müssten, dass der pure Zufall darüber entscheidet, wer unser Land regiert und in welche Richtung wir steuern(?).