Montag, 11. Oktober 2010

kranker Wohlstand.

Es geschehen doch noch Zeichen und kleine Wunder: Vergangene Woche fand in Berlin - von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt - ein Kongress erlesener Ökonomen und höchstwichtiger Wirtschaftsvertreter statt, um auszudiskutieren, wie sich „die Wirtschaft“ vielleicht doch ein wenig menschlicher gestalten lassen könnte ( was etwas platt formuliert ist, denn offiziell stand das so genannte „BIP“, das „Bruttoinlandsprodukt“ auf der Agenda ).
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Tatsächlich haben nämlich auch Ökonomen und Wirtschaftspraktiker inzwischen erkannt, dass das Wirtschaftssystem einige Macken hat. Zum Beispiel, dass der Begriff „Lebensstandard“ einzig und allein am materiellen Konsum einer Gesellschaft festgemacht wird – ob sich die Menschen dabei wohlfühlen, ob sie glücklich und zufrieden sind, oder sich aus Verzweiflung reihenweise vor einen Zug werfen, spielt keinerlei Rolle, wenn es darum geht, den „Wohlstand“ einer Nation zu beurteilen.
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Solche Begriffe wie „Wirtschaftswachstum“, „Wohlstand“ und „Reichtum“ werden also u.a. anhand des „Bruttoinlandsproduktes“ beurteilt. Also: an der Menge der Geldbewegungen. Also beispielsweise: Zahlungen im Rahmen von Rechtstreits (Anwalts- und Gerichtskosten, Bußgelder, etc) genauso, wie Zahlungen im Rahmen ärztlicher und klinischer Behandlungen. Das heißt: je mehr Zank und Streit und Gewalt unter den Menschen, und je kranker die Menschen sind, desto größer das Bruttoinlandsprodukt und das Wirtschaftswachstum und desto höher unser „Lebensstandard“.
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Diesen „ganz normalen“ blanken Unsinn wollten Experten auf ihrem Kongress in Berlin nun ausdiskutieren. Herausgekommen ist – wie zu erwarten war – nicht besonders viel. Man sieht sich mit dem scheinbar unlösbaren Problem konfrontiert, dass Begriffe wie „Lebensqualität“, „Zufriedenheit“, „Glück“, etc eben rein subjektive Ansichten sind, die sich nicht in „objektive, messbare“ Zahlen fassen lassen. Für diese Einsicht, die nichts weiter als eine Portion gesunden Menschenverstand erfordert, haben Experten nun eine Woche lang debattiert. Womöglich kam es dabei auch eher darauf an, dass jeder Fachmann seinen eminent wichtigen Vortrag halten konnte.
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Vorerst und zumindest bis zum nächsten Kongress dieser Art wird es also dabei bleiben, dass (u.a.) jede Depression, jeder Arztbesuch, jede Operation, jedes verkaufte Arzneimittel das Bruttoinlandsprodukt steigert, das Wirtschaftswachstum fördert und unserem allgemeinen Wohlstand dient: je kranker wir alle, desto besser.
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Übrigens: auf dem „Kongress der Zukunftswirtschaft“ im April in Berlin sprach Kanzlerin Angela Merkel davon, beim aktuellen wirtschaftlichen Aufschwung verstärkt auf die Gesundheitsbranche zu setzen. Gesundheitsminister Philip Rösler meinte auf der selben Veranstaltung, im Gesundheitssektor seien bereits rund 4,6 Millionen Menschen tätig und mit über 260 Milliarden Euro Umsatz sei die Gesundheitswirtschaft einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren: „Die Gesundheitswirtschaft wird weiter wachsen und als Jobmotor noch wichtiger“, sagte Rösler wortwörtlich, öffentlich und ungestraft.
Siehe oben: je kranker wir alle, desto besser. Und unsere Regierung möchte, dass das nicht nur so bleibt, sondern dass wir möglichst noch etwas kränker werden, dem Wachstum und dem „Jobmotor“ zuliebe.

Keine weiteren Fragen.
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