Freitag, 23. Dezember 2011

wechselnd umgedacht.


In Vorbesinnung auf Weihnachten und im Angesicht des unvermeidlichen Jahreswechsels heute einmal etwas weniger Aktuelles. Oder im Gegenteil: etwas von dauerhafter Aktualität. Je nach gewünschter Betrachtungsweise bei freier Wahl des persönlichen Standpunktes. Schließlich hängt genau davon auch ansonsten alles mögliche ab. Auch das, was man unter einem „Umdenken“ versteht.

Kürzlich wurde das offizielle „Wort des Jahres“ gekürt: „Stresstest“. Ich selbst dagegen halte ein anderes für geeigneter: „Umdenken“. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, jemals öfter auf dieses Wort gestoßen zu sein als in diesem Jahr (was vielleicht auch zwangsläufig beruflich bedingt sein kann).

Noch nicht einmal vor drei Jahren war das der Fall, als ein gewisser Barack Obama mit „Yes, We Can“ und dem Schlagwort „Change“ weltweit die Politik- und Medienszene aufmischte. Heute muss man jedenfalls in Erwägung ziehen, dass dieses „Change“ auf gut Deutsch weniger als epochale „Veränderung“ gemeint war, sondern als vergleichsweise simpler „Wechsel“ von einer US-Regierung zu einer anderen. Womöglich ist es auch so, dass jemand mit tatsächlich visionären Ideen und Absichten von „den Realitäten“ eingeholt und abgewürgt wurde, prompt als er im Chefsessel saß.

Immerhin ermöglicht das eine recht elegante Überleitung zum „Umdenken“, nämlich im offenkundig-scheinbaren Gegensatz zu dem, was man für „realistisch“ und „realisierbar“ hält. Anders gesagt: Nicht alles, was denkbar ist, ist auch realistischerweise realisierbar. Und umgekehrt.
Darauf kam nicht zuletzt auch Kanzlerin Merkel höchstpersönlich im März dieses Jahres zu sprechen, wonach uns die Atomkatastrophe in Fukushima zumindest lehrt, dass „etwas, was nach allen wissenschaftlichen Maßstäben für unmöglich gehalten wurde, doch möglich werden kann“, so die studierte Physikerin.

Also: Umdenken! Wir müssen umdenken! Doch „um“ was genau? Um die Wissenschaft und all ihre Maßstäbe herum, vielleicht in Richtung dessen, was „trotz dem“ möglich ist? Oder denken wir uns lieber um die Verantwortung herum? Oder um den Verstand? Um Kopf und Kragen? Oder: in dieser Reihenfolge, aber irgendwie anders als bisher, effektiver und effizienter, und dann wird alles besser?

Man könnte auch fragen: Was interessiert uns eigentlich …wirklich? Gibt es ein reales Interesse an etwas wirklich Wichtigem? Oder interessiert uns tatsächlich nur noch, ob wir in der City einen Parkplatz finden, dass wir an der Supermarktkasse nicht lange herumstehen müssen und was heute Abend im Fernsehen läuft?
Ist da irgendwo irgendjemand, der eine Idee hat, wohin es eigentlich gehen soll? Für die Zukunft? Zumindest als grobe Richtungsangabe(?) – sei es auch nur als realistischerweise kaum realisierbare Vorstellung, entgegen einigen geltenden Maßstäben?

Oder wird wirklich gemeint, es wäre eine grandiose Lösung, Automobile nicht mehr mit Benzin, sondern elektrisch fahren zu lassen? Also jeder weiterhin mit seinem eigenen, farbig lackierten Blechhaufen unterwegs, dieselbe Gesundheitsbelastung, Platz-, Geld- und Ressourcenverschwendung, nur eben „umweltfreundlicher“?
Wird wirklich gemeint, eine andere revolutionäre Lösung sei die Energiegewinnung durch Sonne, Wind und Wasser? Ohne dass irgendjemand in Frage stellt, warum und wofür genau eigentlich dermaßen viel Energie gebraucht wird(?), etwa für nächtliche Leuchtreklame, für den Rund-um-die-Uhr-Betrieb von Abfüllanlagen in Brauereien, von Gummibärchen- und Kartoffelchipsherstellung, für den Dauerbetrieb von Schlachthöfen und anderen Fließbandproduktionen, für die endlos langen Tiefkühltheken in den Supermärkten? Oder wofür genau braucht unsere Gesellschaft eine solch enorme Energiemenge?
Wird wirklich gemeint, eine andere Lösung sei es, Politiker und Manager gnadenlos an den Pranger zu stellen, die sich unmoralisch verhalten(?) – während es Otto Normalbürger weiterhin als Kavaliersdelikt betrachten darf, „Tempo-30-Zonen“ zu ignorieren und auf „Eltern-Kind“-Parkplätzen falsch zu parken, weil er es nunmal gerade eilig hat?
Und wird wirklich gemeint, die Welt ließe sich verbessern, indem wir eine „Bildungsoffensive“ nach der anderen starten(?) – während wir gleichzeitig von Politik und Werbung mit Worthülsen und Phrasen überschüttet und mit Fernsehshows zugemüllt werden, die an Niveaulosigkeit und Dümmlichkeit kaum noch zu überbieten sind?
Nur beispielsweise.

Meint man wirklich, das Ganze ist insgesamt grundsätzlich voll in Ordnung, es müsse nur hier und dort noch ein bisschen herumgefeilt werden? Ist das mit „Umdenken“ gemeint? Weit weniger belastend, als sich darüber Gedanken zu machen, ist es dagegen natürlich, einfach beim „Stresstest“ als „Wort des Jahres“ zu bleiben. Denn darum kümmert sich schon irgendwer.

Ich wünsche besinnliche Feiertage und einen gelungenen Rutsch.
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Samstag, 10. Dezember 2011

bildungsfern besprochen.



Vor gut einer Woche konnte man wieder einmal ein kleines Kunststück erleben: Wie man sehr ausführlich über Bildung spricht, ohne über Bildung zu sprechen. Das Ganze war öffentlich (sogar: öffentlich-rechtlich) im Fernsehen zu bestaunen, als in „Günter Jauch“ einem Millionenpublikum ziemlich wirre Ansichten untergejubelt wurden.

In der relativ neuen Sonntagstalkshow unter Leitung des gleichnamigen Moderators hieß es „Generation doof - warum gibt es so viele Bildungsverlierer?“. Wobei gleich dieser Titel immerhin darüber informiert, dass es (ein paar) Sieger und (sehr viele) Verlierer gibt, und „Bildung“ damit wohl keineswegs eine Angelegenheit der ganz persönlichen Entwicklung und Reife eines Menschen ist, sondern einen zwischenmenschlichen Wettkampf darstellt, jeder gegen jeden, von öffentlichem Interesse.

Das alleine schon provoziert die Frage, wie gebildet es überhaupt ist, von einer solchen Grundannahme auszugehen(?). Immerhin die Grundschullehrerin Sabine Czerny deutete diese leichte Fragwürdigkeit an: „Es geht nicht darum, besser zu sein, sondern sehr gut zu sein“. Diese Feststellung wurde allerdings im Weiteren glänzend ignoriert. Vielleicht deshalb, weil keiner der Anwesenden sie verstanden hat.

Apropos Anwesende: Als Talkgast eingeladen war u.a. der Unternehmer Harald Christ, wohl wegen seines vermeintlich beispielhaften Vorbildcharakters, weil er sich „hochgearbeitet“ hat, wie es hieß, vom unterprivilegierten Arbeiterkind zum Multimillionär, wie es hieß, kurz: eine „Bilderbuchkarriere“, wie es hieß.
Auch hier könnte man sich fragen, wie gebildet es ist, den Sinn von Bildung in der Anhäufung von Geldvermögen zu sehen, das dazu noch in diesem speziellen Fall, in dem Herr Christ seine Millionen am Finanzmarkt zusammenspekulierte, und das so in dieser Weise einem Millionenpublikum als erstrebenswert unterzujubeln.

Ein anderer Anwesender, Michael Rudolph, der „härteste Schulleiter Berlins“, durfte sich öffentlich-rechtlich damit brüsten, Kinder, die verspätet zum Schulbeginn erscheinen oder im Unterricht stören, strafweise zu gemeinnütziger Arbeit zu verdonnern, wie etwa Müll aufzuklauben oder Laub zusammenzufegen.
Wer Kindern jedoch lehrt, dass gemeinnützige Arbeit eine Strafe ist, und das auch noch als Teil einer „umfassenden Bildung“ betrachtet, der gehört damit in ein Museum, doch weder in einen Schulleitersessel noch in eine solche Talkshow.

Zwei weibliche Gäste wiederum, eine 14-jährige, die Goethes „Faust“ auswendig beherrscht, sowie eine Seniorin, die im Alter von 71 Jahren ihr Abitur gemacht hat und nun gerade ein Studium beginnt, rundeten das Desaster auf gelungene Weise ab.
Natürlich: beide leisten sicher etwas außergewöhnliches – was im Grunde tragisch genug ist. Die andere Frage, die jedoch ebenfalls ungeklärt blieb, ist: was hat das beides eigentlich mit Bildung zu tun? Oder anders gefragt: zählen die beiden damit nun etwa zu den Bildungssiegerinnen?

Und über dem allem schwebte das Geheimnis, worüber eigentlich gesprochen werden sollte. Aber: warum auch? Über Bildung eben. Bildung ist wichtig, das weiß schließlich jeder. Wer ungebildet ist, hat es schwer im Leben und gehört laut Talkshowtitel zur „Generation doof“. Also: Bildung! Bildung! Und nochmals: Bildung! Alle brauchen Bildung! Gute Bildung! Bessere Bildung! Was immer damit auch gemeint ist.
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