Dienstag, 3. Dezember 2013

Türen zu! Es zieht!

Pünktlich seit dem ersten Dezember, der diesmal zufällig auch noch der erste Advent war, poltern reihenweise eMails in den Posteingang, in denen man über „Türchen“ informiert wird, die gefälligst zu öffnen sind, und zwar vorübergehend, bis auf weiteres, täglich ein anderes. Und alle meinen, sie hätten besondere Aufmerksamkeit verdient, begründen jedoch nicht, warum.

Da haben wir’s wieder: Die Digitalisierung führt nicht zu einer Informationsflut, sondern sie wird zur Überflutung genutzt; was mindestens zwei Paar Schuhe sind. Eine solche Inflation „virtueller Adventkalender“ war jedenfalls vor dem Internetzeitalter undenkbar. Welches Unternehmen hätte wohl an jedes Zielgruppenmitglied drei Wochen lang jeden Tag ein Briefchen verschickt? Per eMails und Websites ist das problemlos möglich, also wird es auch gemacht.

Zur Weihnachtszeit ein „virtueller Adventkalender“. Wie kommt man auf so etwas? Anders gefragt: Wenn das ohnehin bereits übermäßig praktiziert wird, wie kommt man darauf, sich freiwillig in dieses kreative Vakuum zu stürzen? Wahrscheinlich verhält es sich ähnlich, wie in dem recht gelungenen Banken-Werbespot: „Wir machen das mit den Fähnchen“ (>> YouTube)

Wenn man Neil Postman folgen will, führt so etwas zu einer „Entleerung der Symbole“. Das klingt ziemlich dramatisch. Doch dafür findet man ausreichend Anhaltspunkte: Wenn Symbole übermäßig verwendet werden, verlieren sie an Bedeutung, sie verlieren ihre symbolträchtige, inspirierende Wirkung, sie verkommen zur Gleichgültigkeit.

Ungefähr so, wie inzwischen in TV-Shows von Privatsendern das junge Publikum nicht mehr nur klatscht und kreischt, sondern angewiesen wird, sich für jede noch so mittelmäßig dargebotene künstlerische Leistung von den Sitzplätzen zu erheben. Eine Geste des Respekts, die früher einmal nur wirklich bedeutsamen Menschen des öffentlichen Lebens mit einer wirklich bemerkenswerten Lebensleistung vorbehalten war. So wird eine symbolische Geste auf das Niveau der Beliebigkeit gestampft, und hat für echte Persönlichkeiten plötzlich keine mehr übrig. Doch das nur nebenbei.

Dass inzwischen bereits Ende August die ersten Lebkuchen, Marzipanbrote und Spekulatius in weihnachtlicher Verpackung angeboten werden, kann als Mosaikstein einer solchen „Symbolentleerung“ gewertet werden. Auch der frühere Nikolaus musste so fast zwangsläufig zum „Weihnachtsmann“ mutieren, als Rechtfertigung dafür, dass man den gesamten Dezember hindurch permanent auf entsprechend gekleidete Statisten trifft: „Schon wieder einer“.
Und es gehört auch dazu, dass die typischen, rot-weißen Mützen, ggf. mit zeitgemäß blinkenden LED-Lämpchen ausgestattet, in den Fankurven der Fußballstadien auf jedem zweiten Kopf prangen, und es auch Ladenbesitzer immer noch für eine prima Idee halten, ihr Verkaufspersonal damit auszustatten: „Wir machen das mit den Fähnchen“.

Doch das ist eben das, was man „zeitgemäß“ nennt. Weihnachten ist nun einmal ein Wirtschaftsfaktor. Und wie alle Jahre wieder, werden wir auch diesmal ungefragt darüber informiert werden, wie zufrieden der Einzelhandel mit dem Weihnachtsgeschäft ist. Warum auch immer wir das wissen sollen.

Montag, 25. November 2013

Wer wird denn gleich alles persönlich nehmen

Beschäftigen wir uns doch noch einmal kurz mit einem inzwischen wieder abgeebbten Thema: Das Internet, „Soziale Netzwerke“, Daten und die öffentlich diskutierte private Sphäre von Privatpersonen, die sich in aller Öffentlichkeit bewegen. Eine Diskussion, die stellenweise anmutet, als würden wir noch im Zeitalter der Postkutschen leben.

Wie war das noch, vor gerade zwei Monaten, als bekannt wurde, dass unsere Daten fast vollständig von der US-amerikanischen NSA abgesaugt und ausgespäht werden: Im TV-„Kanzler(kandidaten)-Duell“ warf der Herausforderer der Amtsinhaberin wochenlange Untätigkeit vor, die darauf antwortete, sie regiere nach dem Motto „Erst denken, dann handeln“, denn schließlich sei ja zu diesem Zeitpunkt nichts definitiv geklärt gewesen. Doch als kursierte, dass auch ihr eigenes Mobiltelefon abgehört worden sein soll, griff Angela noch am selben Tag zum Roten Telefon.

Beim Thema Datenschutz, gerade dem Schutz persönlicher Daten, reagiert man hierzulande empfindlich, umso empfindlicher, je persönlicher. Warum eigentlich? Vor allem: was sind eigentlich „persönliche Daten“? Gehört ein persönliches Geburtsdatum auch dazu, obwohl etliche Menschen am selben Tag geboren wurden? Oder eigentlich nicht, aber in Verbindung und zusammen mit anderen persönlichen Daten doch? Oder zusammen mit persönlich versendeten eMails und SMS, Einträgen bei „Facebook“, Suchanfragen bei „Google“, Buchkäufen bei „Amazon“, Ersteigerungen bei „eBay“, Flugbuchungen, und so weiter?

Na, eben. Es kommt gerade eben nicht auf die nackten Daten an, denn die sind allesamt nichtssagend. Es ist die Verbindung mit dem Datensammler, der Daten, die keine Bedeutung haben, eine Bedeutung gibt. Die Kunst, aus Nullen und Einsen etwas zu machen, was man „Information“ nennt. Wohlgemerkt: So etwas wie Information an sich gibt es nicht. Eine Information ist „ein Unterschied, der einen Unterschied macht“. Und Unterscheidungen werden von Menschen getroffen, und zwar willkürlich. Die NSA oder der BND, zum Beispiel, wollen „die Bösen“ aus „den Guten“ herausfiltern. Dass das zu einer kniffligen Aufgabe geworden ist, seit dem es keinen Ostblock mehr gibt, ist natürlich klar. Da muss man einfach Verständnis haben.

Und sonst? Wenn „Google“, „Facebook“, „Amazon“ & Co. Daten sammeln und verknüpfen, wenn dasselbe mit „Bonuskarten“ wie „Payback“ und „DeutschlandCard“, etc. getrieben wird, und jetzt sogar ein „LG“-Fernseher speichert und als Datenpaket versendet, wann man sich welches TV-Programm wie lange angesehen, und wann auf welchen Kanal umgeschaltet hat, dann nur ausschließlich, weil man uns „noch gezielter“ mit Werbung zumüllen möchte. Na, bitteschön. Auch dafür kann man konjukturelles Verständnis aufbringen und die „noch gezieltere“ Werbung unberührt weiterhin ignorieren.

Unter einer informationellen Freiheitsberaubung verstehe ich allerdings etwas anderes. Da müsste man den Datenschutz konsequenterweise auch auf Supermärkte und die Müllabfuhr ausweiten. An jeder Kasse sichtgeschützte Einzelabfertigung, denn anhand der Produkte, die jemand auf das Kassenförderband legt, lässt sich mindestens genau so viel ablesen, wie aus dem Verpackungsmüll: Was da alles durch die Gelben Säcke schimmert, die Menschen an ihrem Gartenzaun abstellen, und dadurch freiwillig veröffentlichen: welche Marken, welche Mengen, „Bio“-Produkte, Fertiggerichte, ob Kinder im Haushalt leben und/oder Haustiere, …ganze Familienverhältnisse inklusive Lebensstile. Am Briefkasten sind die Müllers identifizierbar, in der Einfahrt das Auto geparkt, auf dem prangt „Kevin fährt mit“, so wird dann auch der Nachwuchs vollnamentlich bekannt. Aber unsere persönlichen Daten gehen niemanden etwas an.

Freitag, 15. November 2013

Die Zukunft spricht für sich selbst.

Der geneigte Leser muss an dieser Stelle vorab darüber informiert sein, dass ich Supermärkte nur sporadisch aufsuche und die Haupteinkäufe von meiner Frau erledigt werden. Das hat nichts mit einer altertümlichen Rollenverteilung in der Ehe zu tun, es hat organisatorische Gründe. Doch es sieht so aus, als müsste ich das aus beruflichen Gründen schleunigst überdenken.  

Aufgrund verschiedener Umstände und eher aus Versehen landete ich unterwegs kürzlich in einem „Aldi“-Supermarkt. Als ich ihn wieder verließ, empfand ich eine leichte geistige Verwirrung. Bis heute ist der genaue Grund dafür noch ungeklärt; ob ich den Kontakt zur Normalität verloren habe, oder ob die Normalität irgendetwas anderes ist, als ich eigentlich dachte.

Mangels einer sichtbaren Bäckerei, aber dringlichem Hungergefühls, beschloss ich, im nächstgelegenen Supermarkt einen Imbiss zu kaufen. Noch nichtsahnend ging ich strammen Schrittes in die gewohnte Backwarenabteilung, fand dort jedoch statt gewohntem Regalsortiment einen ungewohnten Backautomaten vor. Ein Automat, der auf Knopfdruck eine gewünschte Backware auswirft. Oder auch nicht. Sondern statt dessen vorher eine ruhig-säuselnde Frauenstimme aus einem Lautsprecher, man möge bitte einen Moment auf die frische Backware warten. Willkommen im Jahr 2013.

Auf dem Weg zur Kassenzone das Gleiche: Eine ebenso ruhig-säuselnde Frauenstimme spricht in die Weiten des Supermarktes: „Liebe Kunden, wir schließen Kasse zwei“. Wenige Sekunden später: „Liebe Kunden, wir öffnen Kasse drei für Sie“. Sodass ich fast in Erwartung war, gleich über den Zug informiert zu werden, der auf Gleis neun einfahren wird.

Trotz dieser ruhig-säuselnden Stimmen war ich leicht beunruhigt. Und zwar aus zwei Gründen, die der geneigte Leser keineswegs nachvollziehen können muss. Ich war nicht der einzige Kunde in diesem Laden, doch ganz offensichtlich der einzige, der sich über den Backautomaten und die geheimnisvollen Stimmen wunderte. Ein paar Mitmenschen in meiner Nähe schienen sich eher über meine Verwunderung zu wundern.

Zum anderen habe ich Vorurteile gegen Stimmen, die irgendetwas in aller Ruhe in die Ohren ihrer Mitmenschen säuseln. Vor meinem geistigen Auge taucht dabei schlagartig eine „Kuckucksnest“-ähnliche Szenerie in einer Nervenklinik auf: „Ja, natürlich. Sie sind Napoleon, haben die Dampfmaschine erfunden und den Eiffelturm gebaut. Das wissen wir doch. Aber jetzt nehmen sie bitte ihre Medizin und legen sich ein bisschen hin“.

Wenn so etwas dann auch noch aus technischen Apparaten kommt, denke ich wiederum spontan einerseits an einen Fahrstuhl, nämlich in „Per Anhalter durch die Galaxis“, der dem Fahrgast versucht zu erklären, welche Vorteile es hätte, nach unten zu fahren statt nach oben, und dass es ihm eine Freude sei, sich für den Fahrgast zu öffnen und zu schließen.

Zum anderen denke ich an die intelligente Bombe in dem Kultfilm „Dark Star“, die mit dem Raumschiffpiloten den Sinn des Lebens ausdiskutiert, nicht abgeworfen werden will, weil sie mit der Detonation schließlich ihr Leben aushaucht, andererseits aber doch, am besten jetzt gleich im Raumschiff, explodieren muss, weil das schließlich ihre Bestimmung sei, wovon der Pilot sie mit all seiner Überredungskunst abzuhalten versucht.

Es wird unweigerlich so kommen. Da sind sprechende Backautomaten erst der Anfang. Kürzlich wurde in der Sendung „Scobel“ (3Sat) über „Das Internet der Dinge“ diskutiert. Über „intelligente“ Kühlschränke etwa, die im Bedarfsfall „selbstständig“ den Vanillepudding nachbestellen, was eine ganz tolle Sache wäre, außer natürlich, man möchte lieber einmal Schokopudding essen. Nein. Es wird schlimmer werden. Der Kühlschrank wird das ausdiskutieren wollen. Es ist unaufhaltsam.

Montag, 4. November 2013

(Nicht nur) eine Frage der Gerechtigkeit

Und wieder einmal muss es eine Studie sein, die angeblich etwas „enthüllt“, was wir alle bisher nur ahnen konnten, wenn überhaupt. In diesem Fall eine Studie der Kinderhilfsorganisation „World Vision“, durch die nun entlarvt worden sein soll, wie und was Kinder über das Thema Gerechtigkeit denken.

„Kinder“, so heißt es vorweg mit Berufung auf diese Studie, „haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn“. Schon an dieser Stelle ist es berechtigt, sich ein paar Fragen zu stellen. „Gerechtigkeitssinn“. Aha. Ist Gerechtigkeit also eine Frage der sinnlichen Wahrnehmung? Also so, wie Hunger, Durst, Temperatur, Körperhaltung, und so weiter? Oder ist da nur irgendetwas flott hingeschrieben worden und irgendwie anders gemeint? Und wenn, was sagt das über den Rest der versprochenen Enthüllungen aus?

Die Experten wollten erst einmal von den 2500 befragten unschuldigen Kindern wissen, was denn Gerechtigkeit überhaupt ist. Das ist ungemein interessant, weil selbst erwachsene Menschen erheblich unterschiedliche Vorstellungen mit diesem Begriff verbinden. Noch nicht einmal unter Experten und Politikern ist man sich einig, was „sozial gerecht“ ist und was nicht. Ob es etwa gerecht ist, dass auch Millionären Kindergeld zusteht, während es Bedürftigen, die mit jedem Cent rechnen müssen, auf den mickrigen „Hartz IV“-Regelsatz angerechnet wird. Doch das nur nebenbei.

Ein 10-Jähriger soll jedenfalls gesagt haben: Gerechtigkeit ist, wenn „jeder gleich behandelt wird und die gleichen Möglichkeiten hat“. Na, wenn das nicht mal ein intelligentes Kind ist. Aber… woher weiß der Junge das eigentlich?

Da landen wir bei einem kniffligen Punkt: Eine solche Allerweltsdefinition wird einem Kind vornehmlich von den Eltern erklärt: „Mama, was ist eigentlich Gerechtigkeit?“ und bekommt eine entsprechende Antwort, abhängig davon, was Mama darüber denkt. Und unterschiedliche Mamas geben unterschiedliche Antworten. Papas übrigens auch.

Prompt landet man in der nahezu pathologischen Schichten-Diskussion: Bedürftige Eltern in der „Unterschicht“ tendieren wohl zwangsläufig dazu, das Thema Gerechtigkeit öfter und anders zu thematisieren als gutsituierte Eltern in der „Oberschicht“ – und das wird selbstredend so auch erst einmal von deren Kindern übernommen.

Ehe man sich versieht, wird der „Gerechtigkeitssinn“ nicht mehr dem Kind zugeschrieben, sondern seiner „sozialen Herkunft“, und somit schließlich dem Einkommen der Eltern. Und wenn man gerade so schön dabei ist, kann man gleich noch ein paar andere charakterliche Eigenschaften und Fähigkeiten eines Kindes anhand der familiären Finanzlage bemessen. Schließlich sortiert man in Personalabteilungen auch die Bewerbungen von Jugendlichen aus, deren Absenderadresse einen „sozialen Brennpunkt“ verraten.

Wie gerecht das den Kindern und letztlich auch den Eltern gegenüber ist, sollte vielleicht mit einer neuen Studie enthüllt werden. Dazu sollte allerdings vorher die soziale Herkunft der Experten überprüft werden. Es geht aber auch einfacher. Was gerecht ist, hat Bazon Brock in einem Satz gesagt: „Wer zwei Hemden hat, gebe dem eins ab, der nur eines hat, damit er auch zwei habe“.

Freitag, 25. Oktober 2013

Man muss mit allem rechnen.

Na, sowas. Bildungsfernsehen in einem der „Dritten“ Programme. Thema: Mathematik. Präsentiert von einem Professor Doktor. Doch überraschend schnell weicht die Beeindruckung durch Thematik und akademische Titel einem fast ungläubigen Staunen über das, was da als „Bildung“ etikettiert versendet wurde.

Es war die Sendung „Mathematik zum Anfassen“. Folge 4 von 28: „Zahlen und Zählen“ …sodass man sich prompt fragt, worüber wohl in den ersten drei Folgen referiert wurde, wenn erst jetzt in der vierten Ausgabe über Zahlen gesprochen wird(?).

Man muss dem moderierenden Referenten der Sendung unbedingt zu Gute halten, dass es nicht einfach ist, das Wesen von Zahlen und des Zählens in gerade einmal fünfzehn Minuten zu erklären, und das auch noch „zum Anfassen“. Doch so war das Ganze eine exemplarische Veranstaltung dafür, was passiert, wenn sich ein sicherlich exzellenter Mathematiker auf ein Terrain wagt, auf dem er offenkundig deutlich ungeübter ist: Sprache, Rhetorik und Semantik.

Die ältesten Zahlendarstellungen, die wir kennen“, sprach der Referent, „sind etwa 30.000 Jahre alt“ und präsentiert den Knochen eines Wolfes, auf dem etliche Kerben eingeritzt sind. „Die Forscher sind sich einig“ (ohne dass man erfahren darf, welche Art von Forschern gemeint ist) „hier handelt es sich nicht um einen Schmuckgegenstand, sondern hier hat jemand bewusst Zahlen dargestellt“. Und das: in der Steinzeit!

Doch leider: Nein. Diese eingeritzten Kerben sind wohl kaum „ganz bewusst dargestellte Zahlen“, sondern es sind Kerben. Mag sein, dass irgendein Steinzeitmensch damit irgendetwas gemacht hat, was wir heute „abzählen“ nennen würden, doch das macht Kerben noch lange nicht zu Zahlen. Wenn ich mir Buchstaben ansehe, dann wird aus dem C keine 3, nur weil es an dritter Stelle des Alphabets steht.

Der Zuschauer darf dann weiter erfahren, dass der Mensch die Welt über Muster wahrnimmt. Das stimmt sogar. „Und Muster heißt: Zahlen“. Das wiederum stimmt nur mutwillig. Genauer gesagt: Wer einen Hammer hat, sieht überall Nägel. Ein Mathematiker sieht eben überall Zahlen: „Wenn ich heute an einer Stelle drei Bäume sehe, würde ich mich wundern, wenn es morgen nicht mehr drei Bäume wären. Das Spannende ist, dazu muss ich gar nicht auf drei zählen, nicht einmal auf drei zählen können, sondern ich sehe das einfach“.

Leider vergisst der Akademiker zu erwähnen, was das, was er da „einfach sieht“, ganz ohne zu zählen, denn nun mit der Zahl Drei zu tun haben soll? Schließlich: Was er da „einfach sieht“, sind Bäume, ganz sicher jedoch keine Zahlen. Das erinnerte mich unweigerlich an die Hausaufgabe unseres gerade eingeschulten Sohnes, erste Klasse, Rechnen: „Wie viel sind 2 Schafe + 4 Schafe?“ – „6 Schafe“, und erlaubte mir den kleinen Scherz: „Prima. Und wie viel sind 2 Schafe + 4 Ziegen?“. Ein Mathematiker könnte mir das ganz sicher beantworten. Notfalls mit Einkerbungen.

Kaum, dass man das zu Ende gedacht hat, vollführt der Referent etwas ähnliches nun mit Kieselsteinen: „Wenn ich vier Kieselsteine hier liegen habe, dann ist die Zahl gerade. Lege ich einen Kieselstein dazu, wird die Zahl ungerade“. Pardon: Welche Zahl? Da ist keine Zahl! Da liegen Kieselsteine!
Selbst wenn schon: Eine Zahl „ist“ weder gerade, noch „wird“ sie ungerade. Eine Zahl ist eine Zahl. Und sonst gar nichts. Wer Interesse hat, kann das prima bei Gregory Bateson nachlesen: So ist die Zahl 5 mitnichten „größer“ als die Zahl 3, und es Unfug ist zu ermitteln, wer die größere Telefonnummer hat.

Ein ähnliches gewöhnliches Phänomen sind beispielsweise „steigende Arbeitslosenzahlen“. Jedoch: Zahlen „steigen“ und „fallen“ auch nicht. Zahlen sind Zahlen. Sicher passiert es, dass zwei zeitversetzte Zählungen von arbeitsuchenden Menschen zwei verschiedene Zahlen zum Ergebnis haben; das ist aber auch alles. Noch schlimmer verhält es sich mit „steigenden“ und „fallenden“ Temperaturen. Die Temperatur ist eine physikalische Messgröße, ungefähr so wie das Meter. Eine Messgröße wie die Temperatur steigt genau so wenig, wie ein Meter fällt. Doch das nur nebenbei.

Zu guter Letzt wird dem Zuschauer noch die zurzeit größte bekannte Primzahl vorgesetzt, eine sage und schreibe 10-Millionen-stellige Zahl, zu deren Berechnung viele mathematische Tricks und Hochleistungscomputer erforderlich waren. Und der Referent stellt rhetorisch fest, man würde sich vielleicht fragen, ob es dafür überhaupt einen Anwendungsbereich in der Praxis gäbe. Nein. Man fragt sich: Was soll das eigentlich?

Diese essenziellen Frage wird – zurzeit – nur noch getoppt von Professor Alan Guth, eine Koryphäe unter den Kosmologen. Der nämlich hat sich mit monopolaren Magneten beschäftigt, die nicht existieren, aber theoretisch existieren könnten. Mr Guth hat mathematisch zweifelsfrei bewiesen, dass sie existieren müssen, wenn auch „vielleicht nicht in unserem Universum“. Wo sonst, das bedarf wahrscheinlich einer gesonderten Berechnung, an der Mr Guth bereits arbeiten wird.

Freitag, 4. Oktober 2013

Handwerklicher Bildungsengpass

Der Chef einer Handwerkskammer beklagt den Mangel an Nachwuchs: Einem üppigen Angebot von Lehrstellen stünden nur vergleichsweise wenige Interessenten gegenüber. Kurz gesagt: Etliche Lehrstellen im Handwerk bleiben unbesetzt. Die Jugend hat anderes im Sinn, die Eltern für ihre Kinder sowieso. Der Erfolg einer pathologischen Bildungspolitik.

Die so genannten „PISA“-Studien offenbaren regelmäßig angeblich die Defizite der 15-jährigen Schüler an deutschen Schulen, und zwar in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Leseverständnis. Eben das, was man wohl unter „Bildung“ hauptsächlich und vor allem anderen versteht. Deshalb wird ebenso regelmäßig der „Bildungsnot“ eine „Bildungsoffensive“ entgegen gesetzt. Motto: „Bildungsrepublik“ Deutschland. Na, warum nicht. Andererseits: warum eigentlich?

Wir brauchen Ingenieure! Genauer gesagt: Deutschland braucht Ingenieure. Jede Menge. Bauingenieure, Informatiker, Experten für die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, für unser aller Zukunft, für Deutschland als Exportnation. Prima.

Preisfrage: Wer denkt in dem ganzen Bildungswahn ernsthaft an Handwerksberufe? Werden alle Nase lang mehr Ganztagsschulen gefordert, wird Kindern inzwischen schon als 3-jährigen Englisch beigebracht und werden „schulvorbereitend“ reihenweise in Ergotherapien und zu Logopäden geschickt, um aus ihnen Bäcker, Schreiner, Maurer und Klempner zu machen? Die allseits forcierte Jagd auf den überdurchschnittlichen Notendurchschnitt führt irgendwann wahrscheinlich dazu, dass es auf dem Bau folgendermaßen zugeht. „Könnten Sie mir bitte die Schaufel reichen, Herr Doktor?“ – „Aber gern doch, Herr Doktor“.

Und auch Eltern haben mit ihren Kindern anderes im Sinn. Zwangsläufig. Quasi von Geburt ihres Kindes an dermaßen darauf getrimmt, dass es bloß nicht „hinterher hinkt“, hellwach jeden Entwicklungsschritt mit Argusaugen zu überwachen, besser ein Mal zu oft zum Arzt und zu früh zum Logopäden, als zu spät oder gar nicht. „Eltern unter Druck“ heißt es. Was tut man nicht alles dafür, dass der Nachwuchs auch „mitkommt“. Doch wohl kaum dafür, dass das Kind am Ende Fliesenleger wird.

Erst recht den Kindern wird mit einem millionenschweren Aufwand etwas anderes präsentiert. Wie öde und mühsam ist alles mögliche, was als Bildung deklariert wird, im Vergleich dazu, als „Supertalent“ einfach seine „große Chance“ zu nutzen: Dazu muss man nichts weiter als „an sich glauben“, als „Gesamtpaket“ überzeugen, vor einer Jury einigermaßen vorsingen oder unfallfrei zehn Meter geradeaus gehen zu können. Die „Superstars“ unserer Zeit bestechen selten durch ihren Bildungsgrad.

Wie war das noch mit dem 17-jährigen Mädel, das die Schule abgebrochen hat, weil sie „unbedingt singen“ will. Damit meinte sie allerdings natürlich nicht, statt der Schule eine mühsame Gesangsausbildung zu machen, sondern sich bei einer Castingshow vorzustellen: Mit einer dreiminütigen Sangesdarbietung prompt schon einmal ein kleiner Medienstar zu sein, bei RTL, in der „Bravo“, mit weiteren zwei Liedchen zum Plattenvertrag, berühmt, reich und schön. Man muss nur daran glauben – in unserem Zeitalter des Wissens jedenfalls keine leichte Aufgabe.

Vielleicht fehlt es dem Handwerk dabei nicht einmal am Image. Vielleicht fehlt es unserer Zeit nur an Romantik.

Samstag, 14. September 2013

Dampf im Kessel.

Momentan wieder ein angesagtes Thema: Die psychische Belastung am Arbeitsplatz, verursacht durch Stress und Druck – vielleicht auch umgekehrt. Laut Studien leidet rund die Hälfte aller Angestellten darunter, eine ganze Menge davon sogar mit körperlichen Symptomen, von Schlafstörungen, Tinnitus und Angstattacken bis hin zu Burnout, Depression und Selbstmord, die Bandbreite ist erheblich, Tendenz: seit Jahren dramatisch steigend.

Mitleid mit den Betroffenen kann man noch aus einem anderen Grund haben. Je eingehender man sich nämlich mit der Thematik beschäftigt, desto unübersichtlicher werden die Zusammenhänge zwischen vermuteten Ursachen und vermuteten Auswirkungen: beides lässt sich problemlos gegeneinander austauschen. Das hat gewisse Nachteile. Es kann auch Vorteile haben.

Manchmal verbirgt sich der Kern des Problems an einer Stelle, wo man ihn kaum vermuten würde – und genau deshalb dort auch nicht danach sucht. Hier zum Beispiel vielleicht weder in der Psyche, noch überhaupt in der Medizin, nicht einmal am Arbeitsplatz oder im Arbeitsumfeld, sondern ganz woanders.

Sehen wir uns das doch einmal sprachlich an. Hauptursache für psychische Belastung am Arbeitsplatz ist angeblich Druck in verschiedenen Formen: etwa Konkurrenzdruck, Leistungsdruck, Termindruck, Zeitdruck. Das Ganze in Verbindung mit nachlassender Energie („Der Akku / die Batterie ist leer“, auf Kosten der Leistungsfähigkeit.

Wer zufällig Physiker von Beruf ist, hätte immerhin die halbe Berechtigung, so zu reden. Arbeit nämlich ist „Kraft x Weg“ – und das stellt so einiges in Frage, was als Arbeit und Arbeitsplatz bezeichnet wird. Druck wiederum ist die „Krafteinwirkung auf eine Fläche“: Was ist die „seelische Fläche“, auf die welche Kraft einwirkt, um „psychisch unter Druck“ zu stehen?. Energie wiederum ist „die Fähigkeit, Arbeit zu verrichten“ (siehe: „Kraft x Weg“), wobei „Energie pro Zeit“ wiederum definiert, was eine Leistung ist.

Vielleicht sollte man darüber nachdenken, sich einfach einmal anders auszudrücken; um sich nicht freiwillig mit einer Maschine gleichzusetzen, um sich nicht wie ein „Rad im Getriebe“ zu fühlen, und ohne das Gefühl, ständig „unter Strom zu stehen“ und „funktionieren“ zu müssen, dann müsstte man auch nicht mehr „abschalten“, um wieder „aufzutanken“.

Freitag, 30. August 2013

Angst und Bange mit Methode

Kürzlich versendete das Erste Deutsche Fernsehen in „Panorama“ eine großartige Reportage über „Lehrer am Limit“ am Fallbeispiel einer Gesamtschule in Hamburg. Und wie großartig das war, zeigt sich schon allein daran, dass die Hamburger Schulbehörde prompt mit „schweren Vorwürfen“ gegen die Redaktion reagiert hat.

Lehrer müssen leidensfähig sein. Vielleicht mehr denn je. Vielleicht war das auch schon immer so; es wird nur mehr denn je zum Thema gemacht. Im angesprochenen Fall verbrachte die Journalistin und Moderatorin des Magazins „Panorama“ vier Wochen als „Co-Lehrerin“ an einer Hamburger Gesamtschule. Die Eindrücke wurden auf 25 Minuten Sendezeit zusammengeschnitten.

Präsentiert wurden mehrere Lehrerinnen in ihrem vermeintlichen Schulalltag, im Dauerstress, unter Dauerdruck, zuweilen am Rande des Nervenzusammenbruchs, einer Horde von zwölfjährigen Kindern ausgesetzt, die größtenteils machen, was sie wollen. Inwieweit das anwesende Kamerateam den Kindern noch zusätzlichen (oder: überhaupt) Anreiz dazu lieferte, ist natürlich eine andere Frage.

Eines der Hauptprobleme wollte eine Lehrerin darin erkannt haben, dass Kinder an Hamburger Schulen nicht mehr sitzenbleiben können. Die Lehrerin sieht also Notengebung und die Angst vor dem Sitzenbleiben als fehlendes, entscheidendes Druckmittel. Eine andere Idee wäre vielleicht, auch die spätere Anmeldung bei einer Fahrschule vom Notendurchschnitt abhängig zu machen: schlechte Schüler dürfen auch keinen Führerschein machen. Na, wenn das nicht zieht.

Ein paar ganz andere Ideen und seine ganz eigenen Vorstellungen hat da der diplomierte Psychologe Thomas Grüner. Sein Buch „Bei Stopp ist Schluss“ beinhaltet solche Ergüsse wie „Die Schule ist kein Wohlfühlort“ und die Schule verlange „in ihrer Funktion als Vorbereitungs- und Selektionsinstanz viele Opfer“ von den Kindern. Der Mann scheint als Kind bedauernswerte Erfahrungen gemacht zu haben, die womöglich auch seine Berufswahl stark beeinflusst haben.

Herr Grüner will mit seinem Konzept die Einsicht von „Bedürfnisaufschub“, „Frustrationstoleranz“ und Selbstkontrolle bei Kindern erreichen. Und zwar, so die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Birgit Herz, durch „Verängstigung, Beschämung und Isolierung der Kinder“, kurz: mit „emotionaler Gewalt“. Jedoch: Das Ganze wird an 300 Schulen in Deutschland praktiziert, davon mindestens 50 Grundschulen.

Auf die Frage in einem Interview, inwieweit er „Angst als Methode“ empfiehlt, antwortete Herr Grüner glatt: „Also Angst ist erstmal etwas ganz, ganz Wertvolles“. Schließlich sei es „wichtig, dass Kinder lernen, mit ihrer Angst umzugehen“. Natürlich. Das erinnert mich an den Spruch: „Wer Menschen retten will, muss sie vorher in Gefahr gebracht haben“.

Wieviel zu spät muss es eigentlich sein, wenn nur Druckausübung und gezielte Verängstigung helfen, dass Kinder lernen „wollen“? Zum Wollen genötigt. Nicht ein einziges Kind, das aus Druck und Angst Krabbeln, Gehen und Sprechen lernt. Auch später hat Jedes Kind erst einmal eine unbändige Neugier, einen enormen Wissensdurst. Und zwar: ganz von allein, aus sich heraus.

Die Frage ist: Was passiert dann? Wann und an welcher Stelle sterben die Neugier, der Wissensdrang und die Freude an der eigenen Weiterentwicklung? Vielleicht dann, wenn man es dem Kind nicht mehr selbst überlässt und das umtriebige, entdeckerische Lernen durch das ordentliche Belehren einer „fertigen Welt“ ersetzt, in der es gefälligst selbst nichts mehr zu entdecken gibt.

Picasso meinte: „Jedes Kind ist ein Künstler. Die Frage ist, wie es ein Künstler bleiben kann, wenn es erwachsen wird“. Man lasse sich nicht dadurch ablenken, dass Picasso von Künstlertum spricht. Gemeint sind außergewöhnliche Fähigkeiten, außergewöhnliche Leistungen. Jedes Kind ist dazu imstande. Es wird den Kindern bewusst abtrainiert zugunsten von Durchschnittlichkeit, zugunsten von Vergleichbarkeit, um einen Maßstab für das Über-Durchschnittliche zu haben, um eine Konkurrenzsituation herzustellen, um feststellen zu können, wer „der Bessere“ ist. Blanker Irrsinn, der vorläufig im Castingshow-Wahn gipfeln musste.

Und wie sagte Frederic Vester: „Sobald ein Kind in die Schule kommt, beginnt ein grausamer geistiger Verarmungsprozess“. Wenn das so ist: Welche Folgen hat es, wenn man – nach dem Status Quo – alles dafür tut, dass Kinder in der Schule möglichst gut sind? Das wirkt nur auf den ersten Blick provokativ. Man sollte einen zweiten und dritten riskieren.

Freitag, 28. Juni 2013

Verdächtig gut informiert

Da werden angeblich, hauptsächlich aus den USA, von -zig Tausend Angestellten mit einem Heidenaufwand Hunderte Millionen eMails, Facebook- und Google-Plus-Einträge und Telefonate überwacht, werden unvorstellbare Informationsmengen durchwühlt, um ein paar wenige, eine Handvoll Informationen herauszufiltern. Ist das nicht ziemlich paradox?

Und ist es nicht überhaupt paradox, Informationen aus Informationen herausholen zu müssen? Sind es nicht eher Nachrichten, Mitteilungen und Botschaften, die sich in der Masse von Informationen befinden? Oder ist das etwa alles dasselbe? Oder umgekehrt? Oder macht gerade das alles die Information als solche aus? Ist Information an sich dann gar keine?
Und wie paradox ist es, wenn flächendeckend in der Privatsphäre unschuldiger Bürger herumgeschnüffelt wird, und derjenige, der das aufdeckt, wegen Geheimnisverrats gesucht wird?

Etwa so paradox, dass die Masse harmloser Durchschnittsbürger überwacht wird, um ein paar wenige Kriminelle ausfindig zu machen. Die klammheimliche Umkehrung des Prinzips der Unschuldsvermutung: Man muss aufpassen, sich nicht irgendwie (wie genau, kann man nicht wissen) verdächtig zu machen. Am Ende stürmt ein vermummtes, schwer bewaffnetes Spezialeinsatzkommando nachts um Eins die Wohnung einer Durchschnittsfamilie, und entschuldigt sich hinterher für den bedauerlichen Irrtum eines „internen Kommunikationsfehlers“, siehe >> SEK stürmt falsche Wohnung

Ähnlich paradox verhält es sich mit dem Grund für den Überwachungswahn: Die permanente Gefahr vor dem Terror, vor Bomben und Attentaten. Aber wenn doch schließlich genau deshalb alles und jeder überall so aufwändig bespitzelt wird, warum sind wir dann eigentlich noch in Gefahr? Am Ende ist noch etwas dran an dem Spruch „Wer Menschen retten will, muss sie erst einmal in Gefahr gebracht haben“.

Und wie war das noch mit dem basalen Effekt („Wo eine Masse von Informationen herrscht, wird Information an sich unwichtig“) und der Heisenberg’schen Unschärferelation („Mehr Information schafft nicht mehr Klarheit, sondern mehr Unklarheit“). Das könnte uns alle beruhigen. Oder im Gegenteil.

Montag, 27. Mai 2013

Gehirn und Geist ohne Sinn und Verstand

Die Gehirnforschung schreitet unaufhörlich voran. Nur das Humorzentrum hat man noch nicht gefunden. Das ist bedauerlich. Davon nämlich braucht man eine gute Portion, wenn man hört und liest, was die Gehirnforschung angeblich so alles an Erkenntnissen liefert. Ein humoristisches Prunkstück ist dabei die Fernsehsendung „Geist und Gehirn“.

Das geringste Übel hieran ist wohl noch der Titel der Sendung, basierend auf der erfolgreichen Suggestion, dass vom Denken bis zu persönlichen Charaktereigenschaften ein Körperorgan verantwortlich wäre. In derselben Qualität könnte man das Ganze auch mit „Humor und Leber“ übertiteln. Erst recht, wenn das Ganze auch noch von einem Psychiater moderiert wird, dem ungekrönten „Mr. Sozusagen“, Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer. Das ist ungefähr so, als ob man einem Stauforscher die TÜV-Abnahme eines Airbus anvertraut.

In einer der letzten Folgen wurde der Zuschauer über den vermeintlichen Einfluss des Fernsehens auf unsere Kinder belehrt – genauer gesagt: über die Ergebnisse einer 10 Jahre alten Studie mit 11- und 15-jährigen Kindern, „deren Daten zu den härtesten zählen, die es gibt“, so der Moderator. Und wer daran zweifelt, „der muss erst einmal erklären, warum die Daten so sind, wie sie sind, und das kann er nicht“. Von wegen.

Die Daten sind so, wie sie sind, weil man (zum Beispiel) 11- und 15-jährige Kinder dafür ausgewählt hat. Man hätte natürlich etwa auch 10- und 14-Jährige auswählen können. Hat man aber nicht. Der Grund dafür bleibt ein Geheimnis. Und die Daten sind so, wie sie sind, weil man (zum Beispiel) mit dieser Studie bestimmte Fragen klären wollte – andere Fragen dagegen nicht. Und so sehen dann eben auch die Antworten aus. Beispielsweise…

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer präsentiert eine Folien-Serie mit Balkendiagrammen und bemerkt dazu: „Wir sehen, dass Jugendliche, die viel fernsehen, nicht so viel spazieren gehen“. Natürlich. Unsere Wälder und Stadtparks wären voll mit 11-Jährigen, die spazieren gehen, würden sie nicht so viel fernsehen. Wie viele davon weder spazieren noch fernsehen, sondern sich stundenlang mit Hausaufgaben herumschlagen, wird hier leider nicht geklärt.

Laut dem Moderator leidet auch das „Gespräche führen“ unter dem Fernsehkonsum: „Es heißt ja oft, man braucht doch unbedingt den Fernsehapparat, weil man Sozialkontakte haben muss, denn die laufen über die Medien“ und „Es wird wirklich oft gesagt, wenn Kinder heute keinen Fernseher haben, dann vereinsamen sie“. Da wäre erheblich klärungsbedürftig, von wem genau das „oft“ bzw. „wirklich oft“ gesagt wird. Mir persönlich jedenfalls ist das neu.

Nächste Folie: „Musikinstrumente üben“. Und Manfred Spitzer informiert uns: „Naja, das wundert einen nicht, dass natürlich derjenige, der mehr fernsehen schaut, weniger Musikinstrumente übt, einfach weil er dafür weniger Zeit hat“. Oder vielleicht: gar kein Interesse daran? Warum bitte ausgerechnet „Musikinstrumente üben“? Warum vorher „Spazieren gehen?“. Genau so kommt man auf „Daten, die sind, wie sie sind“: weil die Antworten von den Fragen abhängen.

Nächste Folie: „Schulnoten“. Der moderierende Psychiater erklärt, dass die Schulnoten umso schlechter sind, je mehr ein Kind vor dem Fernseher sitzt. Er erklärt dagegen nicht, warum man für diese Erkenntnis eine Studie aus der Gehirnforschung benötigt. Dass laut Spitzer vor allem die „Lesekompetenz“ unter Fernsehkonsum leidet, ist dagegen eine Auswirkung, die etwas mehr Beachtung verdient (komme gleich darauf zurück).

Professor Spitzer weiter: „Mit Statistik könne man vieles beweisen, wird oft behauptet, was nebenbei falsch ist, aber es wird manchmal behauptet“. Aha. Das ist also – nebenbei – falsch. Sagt der Mann, der gerade ein ganzes Feuerwerk statistischer Daten gezündelt hat. Jedoch:
Wir haben eben auch mehr als Statistik! Wir wissen, warum das so ist, wie es ist. Und dazu dient eben genau die Gehirnforschung“. Wie bitte? Wozu dient die Gehirnforschung? Um „zu wissen, warum das so ist, wie es ist“, über nackte Zahlen und Daten hinaus? Die Gehirnforschung liefert nichts anderes: Messdaten! Sonst nichts. Alles andere sind auf solchen Daten basierende Interpretationen und Erklärungsversuche.

Eine andere Frage ist: welche eigentlich? Mit welchen Forschungsergebnissen welches Forschers beschäftigt man sich? So könnte Prof. Dr. Dr. Spitzer bei dem Hirnforscher Detlef B. Linke nachlesen, wie wir uns (natürlich) mittlerweile an die multimediale Alltagswelt angepasst haben, wie gerade die Verbreitung des Fernsehgerätes (inzwischen zudem: Computer und Smartphone) unser Gehirn gegenüber früher immer weniger mit Struktur und Stabilität befeuern, sondern immer mehr mit Auflösung und Bewegung.

Das heißt: Bis zur Verbreitung des Fernsehers lebten wir in der so genannten „literalen Epoche“ des Buchdrucks, in der geordnete, strukturierte, logische Abfolgen dominierten, die ansonsten unverständlich wären, so eben etwa Buchstaben und Musiknoten.
Der Fernseher dagegen läutete die „telematische Epoche“ ein. Hierin dominieren keine ruhenden Zeichen-, Ziffern- und Noten-Abfolgen mehr, sondern Bewegung als Aufleuchten und Erlischen von Bildpunkten, eben das Flimmern der „Flimmerkiste“. Hierhin dominiert nicht das geordnete Nacheinander (z.B. von Buchstaben, Noten, Absätzen, Kapiteln, etc), sondern die Parallelität und Gleichzeitigkeit des „Multitasking“. Hierin dominiert nicht das Geschriebene, sondern Symbole: Verkehrsschilder, Piktogramme und Icons, die auf einen Blick verständlich sind, wo alles Geschriebene das Verstehen verzögert und erschwert. Und das ist die Welt, in der 11- und 15-Jährige heute aufwachsen.

Mit diesem Wissen erweist sich das Geplauder des Herrn Spitzer prompt als ziemlich peinlich und weltfremd. Oder um es mit den Worten eines Berliner Schulleiters zu sagen: „Wir sollten die Kinder auf ihre Zukunft vorbereiten – nicht auf unsere Vergangenheit“.

Freitag, 5. April 2013

Überall haarscharf daneben


Wenn Sie es bisher noch nicht wussten: Das größte Problem, das die Menschheit hat, ist ein übergreifendes Kommunikationsproblem. Angefangen beim Nachbarschaftsstreit um den Gartenzaun und erbitterten Kämpfen um freie Parkplätze bis zum drohenden Atomkrieg in Korea. Alles nur Kommunikationsprobleme. Ob das nun beruhigend ist, wäre noch zu klären.

Der deutsche Kanzlerkandidat der SPD, Per Steinbrück, hat Ziele, Argumente und die für Politiker inzwischen recht seltene Eigenart, „Klartext“ zu reden. Gerade deshalb hat man ihm ein Kommunikationsproblem attestiert.
Im Zusammenhang mit dem Desaster um das Bahnprojekt „Stuttgart21“ wiederum stellte der Ex-Ministerpräsident Mappus (CDU) fest, dass ganz einfach „die begleitende Kommunikation nicht gestimmt“ habe. Ein paar Wochen später meinte Verkehrsminister Ramsauer (CSU) zum selben Projekt, dass „die eigentliche Ursache“ der Milliarden-Katastrophe in „schweren Kommunikationsfehlern“ zu finden sei.

Nicht anders auch in der Schweiz, wo eine Gesetzesvorlage zum totalen Rauchverbot scheiterte, worauf die „grüne“ Nationalrätin Yvonne Gilli (SG) meinte, es sei „nicht gelungen zu kommunizieren, dass es auch um den Arbeitnehmerschutz“ ginge.
Und auch nicht anders in anderen Bereichen, sogar beim Klimawandel. Die Fachleute von „Nature Geoscience“ sehen den weiteren Klimaschutz dadurch gefährdet, dass der Weltklimarat IPCC die Klimaprognosen mangelhaft kommunizieren würde.

Früher meinte man, Vorhaben und Projekte würden an mangelnder Information scheitern. Heute jedoch, im „Zeitalter der totalen Information“, muss ein Scheitern offenbar andere Gründe haben. Etwa den, dass die totale Information falsch kommuniziert wurde. Vielleicht wird man irgendwann erkennen, dass man auch damit auf dem Holzweg ist. Doch das dauert noch mindestens so lange, bis man sich darauf verständigt hat, was Kommunikation eigentlich isr(?).

Bis zum Exzess wird nimmermüde beispielsweise Paul Watzlawicks Spruch „Man kann nicht nicht-kommunizieren“ beschworen. Leider jedoch setzt diese Weisheit klammheimlich einen „Empfänger“ voraus. Ohne anwesenden „Empfänger“ keine Kommunikation, also kann man sehr wohl auch nicht-kommunizieren.
Und das erst recht, wenn es nach Niklas Luhmann geht, dem Urheber der soziologischen Systemtheorie, denn ihm zufolge ist es dem Menschen überhaupt nicht möglich, zu kommunizieren: „Nur die Kommunikation kann kommunzieren“. Sieh an.

Die Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela wiederum haben in ihren revolutionären Arbeiten festgestellt: „Wahr ist nicht, was der Sender sendet, sondern nur das, was der Empfänger versteht“. Demnach ist es ziemlich schnurz, was der „Sender“ mitteilen will, und wie und auf welche Weise er das tut, wie intensiv er an Mimik und Rhetorik und an seinen Botschaften herumfeilt: Er hat auf der Erfolg seiner Kommunikation nicht den geringsten Einfluss. Positiv betrachtet: Er kann dabei auch nichts falsch machen.

Und dann gibt es da mindestens noch den Medientheoretiker Vilém Flusser, der „drei Hauptsätze der Kommunikation“ aufgestellt hat. Der dritte davon lautet: „Wer kommunizieren will, darf nur wenig informieren“. Aha. Manchmal hat man das Gefühl, diese Regel wird unbewusst bereits umfassend angewendet. Man hat sie nur noch nicht verstanden.
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Montag, 1. April 2013

Dauergrün statt rot vor Wut


Na, endlich. Darauf hat die Welt gewartet: Nie wieder lästiges Warten bei Ampelrot! In das Auto einsteigen und bei „grüner Welle“ direkt zum Ziel. Modernste Technikvernetzung soll nun den Autofahrertraum vom Dauergrün auf ganzer Strecke wahr werden lassen. Allerdings spielen auch Umweltaspekte eine gewichtige Rolle.

Mindestens 7 Minuten vor dem geplanten Fahrtantritt legt der Autofahrer sein Fahrtziel und die Route mit einer Handy-App fest, die – vernetzt mit den Navigationssystemen anderer Autofahrer, sowie mit regionalen Verkehrsleitsystemen – die Ampelschaltung so reguliert, dass man bei Dauergrün zum Ziel gelangt.

Ein Team von Stauforschern an der Universität Duisburg-Essen um Prof. Dr. Kowalski, Dr. rer. nat. Koslowski und Peter Prczebylski hat in fast 20 Jahren Zusammenarbeit mit BMW das „Green Wave Driving System“ (GWDS) entwickelt und jetzt vorgestellt. Der BMW-Sprecher A. Prilwitz erklärte heute: „Das System funktioniert momentan bei maximal 6,8 Ampeln, die auf der Fahrtstrecke liegen und 57,2 anderen Verkehrsteilnehmern im Radius von 4,9 Kilometern um das eigene Fahrzeug“.

Freilich geht es bei dieser Innovation nicht nur um das Autofahrerglück, sondern auch um die Umwelt. Das GWDS trägt letztlich zu Treibstoff- und damit Ressourcenersparnis bei, vermindert die Schadstoffbelastung in der Atemluft und Lärmbelästigung bei Bürgern, die an Ampelkreuzungen wohnen. In der Testphase steht das System zunächst für Einsatzfahrzeuge von Polizei, Feuerwehr und Ambulanz, sowie für Taxifahrer und Pizzaboten zur Verfügung.

Samstag, 16. Februar 2013

SKANDAL! Pferde in der Tiefkühlabteilung


Na, endlich. Da sind wir (bis jetzt) in diesem Winter der schon gewohnten Pandemiepanik irgendeiner gemeingefährlichen exotischen Grippe entronnen und mussten uns mit einer lächerlichen Plagiatsaffäre der Bildungsministerin begnügen. Doch nun haben wir endlich einen handfesten Skandal mit dem man uns ausgiebig beschäftigen kann: Pferdefleisch in Lasagne. Köstlich.

Alles begann mit der Nachricht, dass auf zwei Schlachthöfen in England Pferdefleisch in Tiefkühl-Lasagne verarbeitet wurde. Prompt weitete sich dieser Skandal auf andere Länder aus, unfassbarerweise sogar bis in das so penibel kontrollwütige Deutschland. Es lebe die Globalisierung.
Doch: Was genau ist eigentlich das Problem? Angeblich schmeckt Pferdefleisch nicht nur prima, sondern ist sogar richtig gesund. Also: Was ist das Problem?

Natürlich: Pferde genießen in unserem Kulturkreis einen etwas anderen Status gegenüber beispielsweise Rindern, Schweinen und Hühnern. Pferde können eine echte Wertanlage sein, sind zum Dressur- und Springreiten nahezu unverzichtbar und in Form von Ponys gerade für Kinder besonders goldig. Aber sonst? Was ist das Problem? Oder darf man Fleisch erst ruhigen Gewissens verspeisen, nachdem man den dazugehörigen Tieren durch Massenproduktion ihren Status als Mitgeschöpf geraubt hat?

Was ist das Problem? Ist das Problem der Etikettenschwindel? Rinderhack möge bitte aus Rindfleisch bestehen, nicht aus Pferd? Etwa so, wie dem Verbraucher Formfleisch als Schinken untergejubelt wird und Analogkäse, der mit Käse nicht viel zu tun hat?
Was ist das Problem? Ist das Problem der Kontrollverlust? Rindfleisch wird lückenlos deklariert, von der Geburt des Rindes über die Aufzucht bis zur Schlachtung. Das will die EU schon länger auf anderes Fleisch ausweiten, nun vielleicht auch auf Pferde, damit wir alle beruhigt sind. Und bis jemand auf die Idee kommt, in Lasagne auch einmal nach Känguruh- oder Kamelfleisch zu suchen.
Was ist das Problem? Etwa, dass über Pferdefleisch auch Spuren von Phenylbutazon in die Nahrungskette gelangt sein sollen, ein Schmerzmittel, das Pferden gern verabreicht wird? So ähnlich, wie sich Spuren von Schlafmitteln, Psychopharmaka und Anti-Baby-Pillen (u.v.a.) in unser aller Trinkwasser befinden, mit dem wir tagtäglich unsere Mahlzeiten kochen?

Je nach dem, was nun das Problem ist, ist Verbraucherministerin Ilse Aiger dazu berufen, sich darum zu kümmern. Die Frau Aigner, die vor einem Jahr die Diskussion hochelegant auf das Mindesthaltbarkeitsdatum lenkte, als es eigentlich darum ging, dass in Deutschland 500.000 Kinder Hunger leiden. Die Frau Aigner, die kürzlich Bauernproteste gegen EU-Subventionskürzungen von 3,5 Milliarden Euro mit dem Hinweis entschärfte, die Bauern hätten doch nun schließlich Planungssicherheit.
Das wird noch spannend. Vielleicht diskutieren wir bald darüber, ob Lasagne mit Phenylbutazon-Zusatz nur mit Beipackzettel in Apotheken verkauft werden sollte und wie kompetent man in Apotheken beraten wird.

Samstag, 2. Februar 2013

Diagnose ADHS: „Gestört“ sind nicht die Kinder


Innerhalb von 5 Jahren (2006-2011) ist angeblich die Menge der Kinder und Jugendlichen mit diagnostizierter Aufmerksamkeitsstörung „ADHS“ um 42 Prozent gestiegen. Wenn das so weiter geht, gehören Kinder ohne ADHS bald zu den Außenseitern. Man unterschlägt dabei, dass nicht nur die Kinder als „psychisch gestört“ stigmatisiert werden, sondern gleichzeitig immer auch die Eltern – mehrfach – mitbetroffen sind.

Wann ist eine Aufmerksamkeit eigentlich gestört? Was man versucht zu pathologisieren, sind natürlich nicht die permanent „von außen einwirkenden“ Aufmerksamkeitsstörungen, etwa durch Radio, Werbung, Telefonklingeln, etc, sondern ist eine etwaige persönliche „Störung der Aufmerksamkeitsfähigkeit“. 
Man sollte das tatsächlich so genau nehmen. Im ersten Fall nämlich lässt sich die jeweilige Störung problemlos identifizieren, in letzterem Fall soll sie zwar äußerlich erahnbar, jedoch ursächlich irgendwo „im“ Menschen, im Kopf oder sonstwo versteckt liegen. 

Bei dieser Sichtweise lässt sich daraus kurzerhand eine Krankheit machen, die man „ADHS“ getauft hat, erklärt medizinisches Fachpersonal für zuständig, entwickelt technische und methodische Verfahren zur Diagnose, sowie Therapien und Psychopharmaka zur Behandlung.
Bei dieser Sichtweise eine scheinbar zwangsläufige, weil scheinbar logische Folge- und Ablaufkette von Konsequenzen.

Einmal abgesehen davon, dass man u.a. in Italien eine andere Sichtweise hat: Dort gibt es ADHS (noch) nicht, weil man Defizite in der kindlichen Aufmerksamkeit schlicht und einfach nicht als Krankheit betrachtet, also auch nicht medizinisch, sondern als Herausforderung an Eltern und Lehrer, also pädagogisch.
Und einmal abgesehen davon, dass kritische Ärzte ADHS als „Modediagnose“ bezeichnen, dass also nicht etwa die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen explodiert, sondern lediglich die Zahl der Diagnosen; was zwei Paar Schuhe sind.

Doch es gäbe da auch noch eine völlig andere Möglichkeit: Was als ein „Defizit“ in der Konzentrationsfähigkeit missverstanden wird, ist eventuell vielmehr eine Auswirkung des „Telematischen Zeitalters“. 
Der Medienforscher Vilém Flusser prophezeite, dass wir uns aus der alten Schriftkultur des Buchdruck-Zeitalters heraus-entwickeln, mitten hinein in eine „telematische Gesellschaft“, geprägt von Computerisierung, Medialisierung und Digitalisierung. Die Dominanz von „Technobildern“ (Piktogramme, Icons, etc) würde das Alphabet als vorherrschenden Kommunikationscode ablösen. Damit würde sich so einiges verändern, was nur in einer von Schrift und Text dominierten Welt als „selbstverständlich“ gilt.

Angenommen, Flusser hatte recht. Dann wäre u.a. das, was man als (psychische/soziale) Defizite und als pathologische Symptome (u.a. als „ADHS“) deuten will, nichts weiter als ein eklatantes Fehlverständnis. Die Unfähigkeit zu erkennen, dass Kinder nicht nur biologische Nachkömmlinge sind, sondern in einer anderen Welt aufwachsen, von der sie anders geprägt werden, als jede frühere Generation. Eventuell völlig anders, als das, was die alten Maßstäbe und Kriterien hergeben, und die alten Experten alter Prägung verstehen können.


Dienstag, 29. Januar 2013

Alle frei und gleich in den Fortschritt


US-Präsident Obama hat vor einer Woche seine zweite Amtszeit angetreten, traditionsgemäß am 21. Januar, dem „Inauguration Day“. Ein begrifflich grober Lapsus der US-Amerikaner, die ansonsten verkäuferisch so enorm talentiert sind. Vielleicht ist auch nur die zeitgemäße und werblich cleverere Kurzform „iDay“ längst von „Apple“ patentiert. Am präsidialen Verkaufserfolg ändert das allerdings nichts.

Eines muss man den US-Amerikanern lassen: Wenn sie etwas nahezu perfekt beherrschen, dann ist es die Inszenierung. Erst recht natürlich, wenn es um die Stellenbesetzung des „Mächtigsten Mannes der Welt“ geht. Die Vorstellung, das würde hierzulande ähnlich inszeniert, geschweige denn medial in alle Welt live übertragen, ist dabei erstaunlich absurd.

Perfekte Inszenierung. Wie eine TV-Dokumentation anlässlich des „Inauguration Day“ verriet, sorgt ein Stab von zwei bis drei Dutzend PR-Beratern dafür, dass der US-Präsident imagemäßig optimal auftritt – oder dafür, dass es wenigstens so scheint als ob.
Nach diversen Fettnapftritten früherer Präsidenten sei es in unserer heutigen Medienlandschaft völlig undenkbar, dass Barack Obama öffentlich auch nur ein einziges Wort spontan äußern würde. Völlig undenkbar. Tatsächlich sei restlos alles, jedes Wort und jede Geste vorher detailliert besprochen und abgeprüft. Restlos alles.
Mit dieser Information möge man sich nun die Tränen in Erinnerung rufen, die sich der US-Präsident im Dezember während seiner Rede nach dem Amoklauf an einer Grundschule in Newtown aus dem Auge wischte.

Zurück zum „Inauguration Day“: Der alte und neue US-Präsident, laut Medien nicht nur amtlich, sondern auch persönlich. Aus dem „Messias“ sei quasi ein „Obama 2.0“ geworden. Kein wolkiges Pathos-Gerede mehr, sondern konkrete Ansagen würde er nun liefern. Hieß es.
Und wie konkret ist es, wenn ein US-Präsident „das amerikanische Versprechen von Freiheit und Gleichheit“ nicht nur einfach nebenbei anspricht, sondern gar „beschwört“?

„Freiheit“ heißt dann vielleicht konkret: „Du bist frei! Also ruf´nicht nach dem Staat. Wenn du dich bedroht fühlst, hast du die Freiheit, dir Waffen zu kaufen. Wenn du krank bist, hast du jede Freiheit, dich behandeln zu lassen. Wenn du keinen Job und kein Geld hast, hast du ein Problem. Es ist dein Problem. Kümmere dich selbst darum. Du bist schließlich frei!“.
„Gleichheit“ wiederum heißt vielleicht konkret, frei nach Henry Ford: „Sie können einen Ford in jeder Farbe haben, die Sie wollen – solange es schwarz ist“. Nur, wenn alle gleich sind, wenn alle das gleiche wollen, können wir auch alles an alle verkaufen, Coca-Cola, McDonald´s, Levis, Disney und Hollywood, das Tellerwäscher-Ideal, die Wegwerf-Mentalität und den „American Way Of Live“.

Insgesamt ist das jedenfalls ein echter Verkaufsschlager, in alle Welt exportiert, es lebe die Globalisierung. Hier und da hapert es an der Freiheit, woanders noch an der Gleichheit, manchmal fehlt es auch nur ein bisschen an der Inszenierung. Doch jeder kleine Fortschritt in diese Richtung wird als Fortschritt gefordert, gefördert und gefeiert.

Donnerstag, 24. Januar 2013

Dschungelcamp macht PISA-Studien überflüssig


Dieser Blogeintrag hat das Potenzial, den Unmut von rund 39% der werten Leser zu erregen – jedenfalls, sofern sie sich innerhalb der „werberelevanten Zielgruppe“ im Alter zwischen 14 und 49 aufhalten und kürzlich zu der Rekordeinschaltquote des RTL-„Dschungelcamp“ beigetragen haben.

Wenn eine Partei an einem Wahltag 39% der Stimmen holt, dann gilt das in der Regel als „klarer Wählerauftrag“ zur verantwortlichen Regierungsbildung. Bei dieser Analogie kann es einem die Nackenhaare sträuben, wenn das RTL-„Dschungelcamp“ ebenso viele Zuschauer hat. Und der Großteil davon ist tatsächlich wahlberechtigt.

Zugegeben: Dieser Gedankengang wird nicht für jeden auf Anhieb nachvollziehbar sein, vielleicht sogar nur für relativ wenige. Wenn man etwas für viele und für die Masse machen will, muss es schon simpler sein. So wird das Simple zum Maßstab für Erfolg. Das kennt man in Vollendung bereits aus der Werbung. Und die wurde schließlich längst zum Kulturgut erhoben.

Wer nach dem Maßstab des Simplen und der Masse so richtig erfolgreich sein will, der wird am besten Unterhalter. Ganz simpel eine Masse von Menschen zu unterhalten, damit kann man spielend Millionen verdienen. Von Mario Barth über Thomas Gottschalk und Verona Pooth bis zu Günter Jauch. Wen es nicht ganz so ins Rampenlicht zieht, der macht sich in der Unterhaltungsindustrie selbstständig, produziert Computerspiele oder entwickelt TV-„Formate“ wie etwa das „Dschungelcamp“. Simpel. Massenkompatibel. Erfolgreich.

Im Grunde könnte man sich damit jede weitere PISA-Studie sparen (oder zumindest das Etikett auf dieser Mogelpackung, es ginge dabei um „Bildung“). Ein intellektuelles Gegenstück zum „Dschungelcamp“ wären wohl paar Denker, die befristet in ein Studio gesperrt werden, um über tiefsinnige Fragen unserer Zeit zu plaudern, etwa das „Nachtstudio“ im ZDF, das kürzlich aus dem Programm gestrichen wurde. Womöglich, um mit dem eingesparten Geld das Honorar für Cindy aus Marzahn als neue Assistentin bei „Wetten, dass…?“ zahlen zu können.

Jedenfalls ist schon der offizielle Titel „Ich bin ein Star. Holt mich hier raus!“ geeignet, um sich Fragen zu stellen. Als oberflächlicher Betrachter erschließt sich einem der Sinn nicht ganz, wo es doch für die Teilnehmer im Gegenteil wohl darum geht, möglichst lange in diesem „Camp“ zu verweilen. Dankbar wiederum ist man für den Hinweis, dass es sich hierbei um Stars handeln soll. Vielleicht sind das solche, die ansonsten incognito bleiben wollen und sich gut getarnt zwischen der C- und D-Reihe der „Promis“ verstecken.

Doch bei allem Lästern: Der kurzschlüssige Rückschluss, bei den Zuschauern des „Dschungelcamp“ würde es sich nur um bildungsferne Dumpfbacken handeln, ist ein Trugschluss. Tatsächlich sind hochintelligente Menschen darunter, die auch ein solches „Trash-TV“ schlicht und einfach als unterhaltsam empfinden.
Und das, wohlwissend darum, dass es sich bei solchen Aussendungen um Produkte handelt, die nicht für Menschen produziert werden, die unterhalten werden wollen, sondern auch gerade für die, die das nicht wollen, und eigentlich Besseres zu tun hätten; die nur deshalb überhaupt einschalten, weil es... gezeigt wird. Darüber machen sich TV-Produktionsfirmen und Medienforscher ganz sicher erheblich mehr Gedanken als die Zuschauer. Müsste noch geklärt werden, wer davon strategisch im Vorteil ist.

Freitag, 4. Januar 2013

richtig weniger kann falscher mehr sein


…und umgekehrt. Wenn Sie bis hierhin nur „Bahnhof“ verstehen, liegt das daran, dass das gesamte Thema ohnehin ziemlich paradox sein kann: „weniger ist mehr“, also lieber etwas weniger mehr, dafür eben mehr weniger. Kein Wunder, wenn kaum noch jemand weiß, was richtig und falsch ist, was er tun oder lassen soll.

Ein beispielsweise angesagtes Thema ist seit ein paar Jahren „ethischer Konsum“. Wobei „Ethik“ grundsätzlich gern mit Verzicht gleichgesetzt wird: weniger Stromverbrauch, weniger Auto fahren und weniger CO2-Ausstoß, weniger Müll, weniger Fett im Essen, etc, etc. Dumm nur, dass dieses penetrant penetrierte „Weniger“ im groben Gegensatz zum „Mehr“ steht, das angeblich unseren Wohlstand ausmacht: mehr Konsum, mehr Wirtschaftswachstum, mehr Steuereinnahmen. Also… was nun?

Wie oft wird das Sparen an sich proklamiert: sparen, sparen, sparen. Wir sollen Strom sparen, weniger Wasser verbrauchen, weniger Müll produzieren. Gleichzeitig müssen aber Strom- und Wasserkraftwerke und Müllverbrennungsanlagen ausgelastet sein, damit sie effizient und rentabel laufen, ansonsten wird das alles teurer, weil… gespart wird.

Ähnlich auf kommunaler Ebene: Laut dem Deutschen Städte- und Gemeindebund (DStGB) haben viele Kommunen im Sparzwang weniger investiert, z.B. weniger renovierte Schulen, weniger Straßenbau. Die Bürger dagegen erwarten heute immer mehr: bessere Straßen, mehr Lehrer, mehr Polizisten, etc. Jetzt wollen 81% der Städte und Gemeinden ihre Gebühren und Abgaben erhöhen, um wieder mehr investieren zu können. Mit der Gefahr, dass deshalb Firmen und Bürger abwandern und doch wieder weniger in die Gemeindekasse fließt.

Gern wird auch „der Konsum“ als solcher zeitgeistig kritisiert. Wir sollten uns mäßigen, wir sollen „bewusst“ oder auch „strategisch“ konsumieren, in jedem Fall bitte: weniger. Doch wehe, wenn der monatlich ermittelte „Konsumklimaindex“ angeblich zeigt, dass den Konsumenten die „Kauflaune“ abhanden gekommen ist. Prompt droht der Kollaps der Konjunktur, Pleite- und Entlassungswellen und der Einbruch der Steuereinnahmen.

Doch zumindest im Falle des Geldes an sich herrscht völlige Klarheit: Im Zweifel ist mehr Geld immer besser als weniger oder gar keins. Mehr Geld bedeutet mehr gefühlte Sicherheit. Oder wie Pablo Picasso meinte: „Ich möchte leben wie ein armer Mann – mit einem Haufen Geld“.