Samstag, 2. Februar 2013

Diagnose ADHS: „Gestört“ sind nicht die Kinder


Innerhalb von 5 Jahren (2006-2011) ist angeblich die Menge der Kinder und Jugendlichen mit diagnostizierter Aufmerksamkeitsstörung „ADHS“ um 42 Prozent gestiegen. Wenn das so weiter geht, gehören Kinder ohne ADHS bald zu den Außenseitern. Man unterschlägt dabei, dass nicht nur die Kinder als „psychisch gestört“ stigmatisiert werden, sondern gleichzeitig immer auch die Eltern – mehrfach – mitbetroffen sind.

Wann ist eine Aufmerksamkeit eigentlich gestört? Was man versucht zu pathologisieren, sind natürlich nicht die permanent „von außen einwirkenden“ Aufmerksamkeitsstörungen, etwa durch Radio, Werbung, Telefonklingeln, etc, sondern ist eine etwaige persönliche „Störung der Aufmerksamkeitsfähigkeit“. 
Man sollte das tatsächlich so genau nehmen. Im ersten Fall nämlich lässt sich die jeweilige Störung problemlos identifizieren, in letzterem Fall soll sie zwar äußerlich erahnbar, jedoch ursächlich irgendwo „im“ Menschen, im Kopf oder sonstwo versteckt liegen. 

Bei dieser Sichtweise lässt sich daraus kurzerhand eine Krankheit machen, die man „ADHS“ getauft hat, erklärt medizinisches Fachpersonal für zuständig, entwickelt technische und methodische Verfahren zur Diagnose, sowie Therapien und Psychopharmaka zur Behandlung.
Bei dieser Sichtweise eine scheinbar zwangsläufige, weil scheinbar logische Folge- und Ablaufkette von Konsequenzen.

Einmal abgesehen davon, dass man u.a. in Italien eine andere Sichtweise hat: Dort gibt es ADHS (noch) nicht, weil man Defizite in der kindlichen Aufmerksamkeit schlicht und einfach nicht als Krankheit betrachtet, also auch nicht medizinisch, sondern als Herausforderung an Eltern und Lehrer, also pädagogisch.
Und einmal abgesehen davon, dass kritische Ärzte ADHS als „Modediagnose“ bezeichnen, dass also nicht etwa die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen explodiert, sondern lediglich die Zahl der Diagnosen; was zwei Paar Schuhe sind.

Doch es gäbe da auch noch eine völlig andere Möglichkeit: Was als ein „Defizit“ in der Konzentrationsfähigkeit missverstanden wird, ist eventuell vielmehr eine Auswirkung des „Telematischen Zeitalters“. 
Der Medienforscher Vilém Flusser prophezeite, dass wir uns aus der alten Schriftkultur des Buchdruck-Zeitalters heraus-entwickeln, mitten hinein in eine „telematische Gesellschaft“, geprägt von Computerisierung, Medialisierung und Digitalisierung. Die Dominanz von „Technobildern“ (Piktogramme, Icons, etc) würde das Alphabet als vorherrschenden Kommunikationscode ablösen. Damit würde sich so einiges verändern, was nur in einer von Schrift und Text dominierten Welt als „selbstverständlich“ gilt.

Angenommen, Flusser hatte recht. Dann wäre u.a. das, was man als (psychische/soziale) Defizite und als pathologische Symptome (u.a. als „ADHS“) deuten will, nichts weiter als ein eklatantes Fehlverständnis. Die Unfähigkeit zu erkennen, dass Kinder nicht nur biologische Nachkömmlinge sind, sondern in einer anderen Welt aufwachsen, von der sie anders geprägt werden, als jede frühere Generation. Eventuell völlig anders, als das, was die alten Maßstäbe und Kriterien hergeben, und die alten Experten alter Prägung verstehen können.


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