Montag, 4. November 2013

(Nicht nur) eine Frage der Gerechtigkeit

Und wieder einmal muss es eine Studie sein, die angeblich etwas „enthüllt“, was wir alle bisher nur ahnen konnten, wenn überhaupt. In diesem Fall eine Studie der Kinderhilfsorganisation „World Vision“, durch die nun entlarvt worden sein soll, wie und was Kinder über das Thema Gerechtigkeit denken.

„Kinder“, so heißt es vorweg mit Berufung auf diese Studie, „haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn“. Schon an dieser Stelle ist es berechtigt, sich ein paar Fragen zu stellen. „Gerechtigkeitssinn“. Aha. Ist Gerechtigkeit also eine Frage der sinnlichen Wahrnehmung? Also so, wie Hunger, Durst, Temperatur, Körperhaltung, und so weiter? Oder ist da nur irgendetwas flott hingeschrieben worden und irgendwie anders gemeint? Und wenn, was sagt das über den Rest der versprochenen Enthüllungen aus?

Die Experten wollten erst einmal von den 2500 befragten unschuldigen Kindern wissen, was denn Gerechtigkeit überhaupt ist. Das ist ungemein interessant, weil selbst erwachsene Menschen erheblich unterschiedliche Vorstellungen mit diesem Begriff verbinden. Noch nicht einmal unter Experten und Politikern ist man sich einig, was „sozial gerecht“ ist und was nicht. Ob es etwa gerecht ist, dass auch Millionären Kindergeld zusteht, während es Bedürftigen, die mit jedem Cent rechnen müssen, auf den mickrigen „Hartz IV“-Regelsatz angerechnet wird. Doch das nur nebenbei.

Ein 10-Jähriger soll jedenfalls gesagt haben: Gerechtigkeit ist, wenn „jeder gleich behandelt wird und die gleichen Möglichkeiten hat“. Na, wenn das nicht mal ein intelligentes Kind ist. Aber… woher weiß der Junge das eigentlich?

Da landen wir bei einem kniffligen Punkt: Eine solche Allerweltsdefinition wird einem Kind vornehmlich von den Eltern erklärt: „Mama, was ist eigentlich Gerechtigkeit?“ und bekommt eine entsprechende Antwort, abhängig davon, was Mama darüber denkt. Und unterschiedliche Mamas geben unterschiedliche Antworten. Papas übrigens auch.

Prompt landet man in der nahezu pathologischen Schichten-Diskussion: Bedürftige Eltern in der „Unterschicht“ tendieren wohl zwangsläufig dazu, das Thema Gerechtigkeit öfter und anders zu thematisieren als gutsituierte Eltern in der „Oberschicht“ – und das wird selbstredend so auch erst einmal von deren Kindern übernommen.

Ehe man sich versieht, wird der „Gerechtigkeitssinn“ nicht mehr dem Kind zugeschrieben, sondern seiner „sozialen Herkunft“, und somit schließlich dem Einkommen der Eltern. Und wenn man gerade so schön dabei ist, kann man gleich noch ein paar andere charakterliche Eigenschaften und Fähigkeiten eines Kindes anhand der familiären Finanzlage bemessen. Schließlich sortiert man in Personalabteilungen auch die Bewerbungen von Jugendlichen aus, deren Absenderadresse einen „sozialen Brennpunkt“ verraten.

Wie gerecht das den Kindern und letztlich auch den Eltern gegenüber ist, sollte vielleicht mit einer neuen Studie enthüllt werden. Dazu sollte allerdings vorher die soziale Herkunft der Experten überprüft werden. Es geht aber auch einfacher. Was gerecht ist, hat Bazon Brock in einem Satz gesagt: „Wer zwei Hemden hat, gebe dem eins ab, der nur eines hat, damit er auch zwei habe“.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen