Freitag, 28. November 2014

zwanghaft physikalisch

Es ist manchmal erschreckend, mit welcher Dreistigkeit unter dem Schlagwort „Wissen“ und aufgepapptem Gütesiegel „Wissenschaft“ ein Unsinn verbreitet wird, der fast schon bestraft gehört. Und das nun auch noch mittels der zünftigen Gladionsfigur Stephen Hawking, der den Unsinn glaubhaft(er) machen soll.

Zurzeit läuf auf irgendeinem Spartenkanal die Dokumentationsreihe „Stephen Hawking - Urknall oder Schöpfung“. Laut Sender-Information: „geht der berühmte Physiker Stephen Hawking der Frage nach, ob es einen Gott gibt“. In der Folge „Der Sinn des Lebens“ wiederum „betrachtet der Astroforscher unser Dasein nach rein rationalen Gesichtspunkten“ gemäß dem Motto „Die Philosophie ist tot, es lebe die Physik“. Kurz gesagt: Es ist Ärgerliches zu erwarten.

Und es wird gleich in die Vollen gegangen. Es beginnt mit der Frage nach dem Bewusstsein und dem Denkvermögen. Warum ausgerechnet mit dieser und keiner anderen Frage begonnen wird, bleibt allerdings unerwähnt. Und dieses Prinzip zieht sich konsequent und rücksichtslos durch die gesamte Dokumentation.

Also: Bewusstsein und Denkvermögen. Man verweist auf René Descartes und seinen Ausspruch „Ich denke, also bin ich“. Descartes sei „allen anderen voraus“ gewesen, heißt es. Das könnte man auch anders sehen: In einigen Fragen war Descartes niemandem „voraus“, sondern lag ganz erheblich daneben. Allerdings will man den Zuschauer gedanklich irgendwohin lotsen, und dazu muss Descartes an dieser Stelle eben als Vordenker dargestellt werden.

Wo man den Zuschauer gedanklich haben will, wird anschließend klar: Descartes „behauptete, der Körper sei mit dem Geist über die Zirbeldrüse verbunden, einem kleinen Organ in der Mitte des Gehirns. Damit hatte er zwar nicht vollkommen recht, aber er kam der Wahrheit nahe“, heißt es. Aha. Er kam „der Wahrheit nahe“. Wir können das anscheinend beurteilen, denn heute kennen wir (also: Wissenschaftler natürlich), offenbar „die Wahrheit“ – endgültig, unzweifelhaft.

Nämlich: „Heute wissen wir, dass das Bewusstsein ein Produkt des gesamten Gehirns ist“. So, so. An solchen Stellen fällt mir spontan immer der Spruch des Entertainers Jürgen von der Lippe ein: „Das Gehirn ist das einzige Organ, das über sich selbst nachdenken kann“. Tatsächlich nämlich weiß man darüber… gar nichts. Schon gar nicht, wie ein Körper-Organ überhaupt so etwas wie Geist und Bewusstsein erschaffen können soll, geschweige denn: wie.

Immerhin. So hat man den geneigten Zuschauer ebenso elegant wie unauffällig zum Modethema „Gehirn“ gelotst: „Das Studium des Gehirns ist Aufgabe der Neurowissenschaftler. Aber da das Gehirn auch von physikalischen Grundkräften, wie etwa der elektromagnetischen Kraft, gesteuert wird, ist auch das Denken im Grunde nichts weiter als Physik“.

Und damit pendelt das Ganze spätestens jetzt irgendwo zwischen extrem waghalsig und grob fahrlässig. Mit solch brachialer Argumentationsakrobatik könnte man auch darauf verweisen, dass unser gesamter Körper schließlich der Schwerkraft ausgesetzt ist, Luftdruck, Schalldruck, Thermodynamik... selbstredend muss dann auch das Denken reine Physik sein, sicherlich.

Doch nun spricht Mr Stephen Hawking persönlich, der – natürlich rein rational – folgert, wir könnten mit unserem heutigen Wissen auch den Sinn und die Bedeutung des Lebens erkunden. Jedoch: „Für die Wissenschaft ist es nicht leicht herauszufinden, wie Bedeutung entsteht. Denn dazu müssen wir erst tiefer in die Frage eintauchen, warum wir ein Bewusstsein haben“. Aha. Müssen wir das? Eher nicht. Man will einfach nur eine bestimmte „Antwort“ loswerden und suggeriert dem Zuschauer eine dazu passende Fragestellung.

Wenn es „für die Wissenschaft nicht leicht ist herauszufinden, wie Bedeutung entsteht“, dann sollte zunächst einmal geklärt sein, was eine Bedeutung überhaupt ist bzw. darunter verstanden wird. Dadurch jedoch gelangt man sehr schnell zu der Erkenntnis, dass die Physik für diese Klärung komplett ungeeignet ist; also lenkt man clever auf ein anderes Thema ab.

An dieser Stelle musste ich diese Dokumentation abbrechen. Es war mir dann doch zu ärgerlich. Und man fragt sich, was so etwas soll. Menschen, die sich für solche Themen interessieren, auf diese Weise an der Nase herum zu führen. Noch schlimmer: wenn die das Ganze sogar glauben, weil es schließlich als „Wissenschaft“ präsentiert wird, von der Ikone Stephen Hawking.

Sonntag, 9. November 2014

quälend frei

In diesen Tagen rund um das Vierteljahrhundert Deutsche Einheit wird wieder ein bestimmter Begriff leicht überstrapaziert: „Freiheit“. Die Ostdeutschen wurden damals „befreit“, heißt es. Seit dem Mauerfall, spätestens seit dem politischen Wiedervereinigungsakt, sind sie „in Freiheit“. Als ob völlig klar wäre, was mit diesem Begriff eigentlich gemeint ist.

Eines meiner Lieblingsfachgebiete ist die Semantik, auch die Semiotik, auch „Bedeutungslehre“ genannt: Die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit Zeichen, Worten und Begriffen, was sie bedeuten, bedeuten sollen, und wie sie (zum Teil: völlig anders) verstanden und verwendet werden.

Exemplarisch dafür ist etwa der Begriff „Erfolg“, der durchweg positiv verstanden wird. Ein Fehlschlag dagegen wird als „Misserfolg“ bezeichnet. Interessanterweise. Schließlich ist ein Erfolg etwas, was aus einem Tun oder Lassen er-folgt, so oder so, positiv oder negativ. Auch ein „Misserfolg“ ist also ein Erfolg. Ein Erfolg, der nur den Wünschen und/oder Erwartungen nicht entspricht. Ungefähr so, wie der Begriff „Unsinn“ unsinnig ist, weil er einen Sinn hat.

Wenn man will, kann man sich so u.a. auch mit dem Begriff „Freiheit“ aktiv beschäftigen statt ihn nur medial passiv zu konsumieren. Etwa mit der Frage, ob „Freiheit“ eigentlich das Gegenteil von „Gefangenschaft“ ist? Das hängt sicherlich davon ab. In einem Staat, in dem keine Meinungsfreiheit gestattet ist, sind Meinungen deshalb sicher nicht gefangen. Außer man betrachtet das nicht politisch, sondern sinnbildlich; poetisch vielleicht.

So gelangt man zu der Frage: Wenn die Definition und das Begriffsverständnis vom Zusammenhang abhängig sind, ist es die Freiheit an sich dann auch? Waren die Ostdeutschen in der DDR zwar unfrei, aber immernoch freier als woanders? Und wie frei ist man als Arbeitnehmer, der vom Gehalt abhängig ist, um sein Leben finanzieren zu können? Und wie ist das in Ländern, die kriegerisch von ihren Diktatoren befreit wurden, in Afghanistan, im Irak beispielsweise, wo in voller Freiheit nun wild um sich geschossen wird.

Karl Lagerfeld meinte in einem Interview: „Ich bin total verantwortungslos. Deshalb könnte ich nie ein Unternehmen führen. Ich bin freischaffend. Freiheit ist die größte Distanz zur Verantwortung“. Vielleicht ist das auch der Grund für die Rekordzahl an Single-Haushalten. Vielleicht sind gar nicht Ehe und Familie heute unpopulär, sondern das Tragen der Verantwortung, die damit verbunden ist.

„Freiheit – die größte Distanz zur Verantwortung“. Das wird zuweilen auch anders betrachtet. In den Vereinigten Staaten ist jeder so dermaßen frei, dass er auch für sich selbst die totale Verantwortung hat, so auch für seine Gesundheit. Deshalb hat es dort Jahrzehnte gedauert, bis Barack Obama eine solidargemeinschaftliche Krankenversicherung durchsetzen konnte. Bis zur nächsten Wahl. Die Republikaner werden das – gleich als erste Amtshandlung – wieder abschaffen. Im Namen der Freiheit jedes einzelnen.

Um zwei Ecken herum führt das im doppelten Sinne zur Wahlfreiheit. Schon beim Konsum hat jeder die freie Wahl. Unter anderem zwischen unzähligen Shampoos, Waschmitteln, Joghurts, Müeslis, Backwaren, Nudelsorten, Getränken, Marmeladen, und, und, und. Die Qual der Wahl, aber in voller Freiheit.

Auch in der Frage, ob man sich „gesund“ ernährt oder nicht, Billigprodukte kauft, oder teurere mit „Bio“ und „Öko“-Siegeln aller Art. Das kann jeder frei entscheiden. Außer natürlich, er muss das Billigste und Ungesündeste kaufen, weil er mit jedem Cent rechnen muss. Doch auch das kann schließlich jeder in voller Freiheit jederzeit ändern.