Montag, 6. Juli 2015

erlebnisreich gezwungen

Im Zuge der unaufhaltsamen Digitalisierung unserer Welt sind natürlich auch die Kinder davon mitbetroffen. Laut irgendeiner Studie sollen angeblich rund zwanzig Prozent der Dreijährigen(!) bereits regelmäßig im Internet surfen. Es gibt Eltern, die das gut finden und fördern. Andere finden das erschreckend. Und die Wahrheit liegt wahrscheinlich und wie immer irgendwo dazwischen.

Es ist gerade ein paar Monate her, da wurde in Expertenkreisen heftig diskutiert, ob und wenn wie oft und wie lange Kinder sich mit Computer und Internet beschäftigen sollten, und ob dabei die analogen Erfahrungen nicht zu kurz kämen. Analoge Erfahrungen... der Versuch, einen Begriff zu etablieren, der das Gegenteil von digitalen Anwendungen darstellen soll. Dieser Versuch ist nicht ganz gelungen.

Analoge Erfahrungen soll quasi heißen: „in echt“, irgendwas machen, und zwar selbst! Basteln, musizieren, noch besser: draußen in der freien Natur, auf dem Spielplatz oder Bolzplatz, noch besser: irgendwas im Wald, Geräusche und Gerüche aufnehmen, das wäre alles „analog“. Also im Gegensatz zum nur passiven Konsum digitaler Medien, Computerspiele, YouTube, Facebook und das ganze. So soll das begrifflich zumindest gemeint sein.

Einerseits befinden sich Eltern damit ständig im Erlebniszwang. An vergleichsweise freien Nachmittagen, die ausnahmsweise nicht vollgepackt sind mit Hausaufgaben. Erst recht an Feiertagen und Wochenenden muss etwas unternommen werden, ob man will oder nicht, bei jedem Wetter. Notfalls müssen sich alle Beteiligten eben dazu zwingen.

Wie steht das Kind denn sonst schließlich da, wenn die Lehrerin in der Morgenrunde fragt: „Und was habt ihr am Wochenende gemacht?“. Wehe, wenn es da nichts Besonderes zu erzählen gibt. Da rümpfen nicht nur die Mitschüler die Nase, das notiert sich auch die Lehrerin gleich in ihr Notizbuch. Das wird jedenfalls von Eltern gemeint.

Erlebniszwang erst recht auf Geburtstagspartys: Den eingeladenen Kindern noch ein Aha-Erlebnis zu bieten ist jedoch eine echte Herausforderung. Man muss fast schon eine Hüpfburg aufbauen, am besten eine ganze Kirmes, damit die Party nicht zum müden 08/15-Ereignis wird. Und prompt sind die nächsten Eltern gefordert, das noch irgendwie zu übertreffen.

Andererseits beinhalten analoge Erfahrungen natürlich auch ein immenses Gefahrenpotenzial. Man stelle sich vor, womit sich Kinder so alles infizieren können, wenn sie draußen spielen, mit den Fingern im Dreck und in Pfützen. Nicht auszudenken, Kinder würden noch auf Bäume klettern, wie früher. Schließlich könnten sie herunterfallen und sich weh tun. Wie früher. Schlimmer noch, sie spielen irgendwo Fußball, wo Fensterscheiben zu Bruch gehen können, oder machen Klingel- oder sonstige Lausbubenstreiche. Dafür werden die Eltern heute gleich verklagt. Dann sollen die Kleinen doch lieber in ihrem Zimmer bleiben, wo nicht viel passieren kann.

Das Ergebnis ist, dass heute angeblich 70% der Kinder zwischen 8 und 12 Jahren höchstens ein Mal pro Woche draußen spielen. Um die 20% haben noch nie einen Bauernhof besichtigt und weitere 20% sind noch nie auf einen Baum geklettert. Es können mehr Kinder auf einem Bild einen Roboter erkennen als eine Eule, und können Tastenfunktionen von Apparaten besser zuordnen die Blätter von Bäumen.

Die Frage ist, wie vieles davon bedauert und beklagt, und was von wem und warum dafür getan und gelassen wird. Rund die Hälfte der Eltern ist der Ansicht, dass Kinder unter 14 Jahren ohnehin nicht unbeaufsichtigt draußen spielen sollten. Der Radius um das eigene Zuhause, in dem Kinder spielen, ist seit den 1970er Jahren um 90% geschrumpft.

Alles rein sicherheitshalber, versteht sich, aus Angst und Sorge. Wehe, das Kind gerät außer Sichtweite. Da kann es doch besser in seinem Zimmer an seinem Computer prima lernen, mit Lernspielen, in Lernportalen, undsoweiter. Das ist schließlich alles von Pädagogen empfohlen und vom TÜV gesiegelt. Und außerdem ist dabei der Lernerfolg viel leichter überprüfbar als bei analogen, „echten“ Erfahrungen.

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