Montag, 16. November 2015

katastrophal betroffen

Wie man uns erklärt, sind wir im Moment, unter dem Eindruck einer Serie von Terroranschlägen, alle Franzosen, insbesondere Pariser. Menschen versammeln sich, um an öffentlichen Plätzen öffentlich solidarisch zu trauern, und das Brandenburger Tor wurde über Nacht solidarisch in blau-weiß-rotes Licht getaucht. Rein soziologisch betrachtet wirft das Ganze ein paar Fragen auf.

In der spanischen Umgangssprache gibt es den „11-M“ als Numeronym des 11. März 2004, als in Madrid zehn islamistische Terroristen mit einer Serie von Bombenexplosionen 191 Menschen töteten, 2051 wurden verletzt. In England spricht man vom „7/7“, dem 7. Juli 2005, als mitten im Londoner Berufsverkehr vier Selbstmordattentäter in drei U-Bahn-Zügen und einem Doppeldeckerbus 52 Menschen töteten, mehr als 700 wurden verletzt.

Nach diesen Attentaten waren wir weder alle Spanier noch Engländer, es gab keine solidarisch trauernden Menschengruppen an öffentlichen Plätzen und auch das Brandenburger Tor erstrahlte weder in den spanischen noch den englischen Nationalfarben. Das ist zehn Jahre her. In diesen letzten zehn Jahren hat sich offenbar etwas verändert.

Die ganz persönliche Erschütterung und Betroffenheit wird jetzt gemeinschaftlich und öffentlich ausschweifend zelebriert. Man könnte die Frage stellen, ob hier inzwischen die Möglichkeiten der „sozialen Netzwerke“, insbesondere per „Facebook“ und „Twitter“ dazu genutzt werden, weil es eben möglich ist – oder ob das Ganze überhaupt nur deshalb stattfindet.

In einer der etlichen Sondersendungen zitierte etwa eine so genannte „Netzreporterin“ folgende „Twitter“-Meldung: „Ich bin so traurig. Einfach ins Bett gehen, Decke über den Kopf ziehen und weinen“. Was verleitet jemanden, seine persönliche Gemütslage auf diese Weise öffentlich zu machen und warum? Und was soll es, dass diese Meldung über das alte Medium Fernsehen noch zusätzlich verbreitet wird? Warum soll der Fernsehzuschauer darüber informiert sein? Was genau ist gegenüber 2004 und 2005 heute anders? Und: soll das in irgendeiner Weise „besser“ sein?

Nach dem kürzlichen Tod von Helmut Schmidt sprach eine befragte 31-jährige Studentin, sie fände den „Hype“ um den Altkanzler und dass scheinbar nun jeder ein „Schmidt-Fan“ sei, „irgendwie befremdlich“. Gut möglich, dass diese junge Frau ihr „Facebook“-Profil momentan in solidarisches blau-weiß-rot gefärbt hat und das überhaupt nicht befremdlich findet, sondern „irgendwie wichtig“.

Auch ansonsten war die mediale Entwicklung hochinteressant mitzuverfolgen, obwohl man einfach nur die Live-Übertragung eines Fußballspiels sehen wollte. Die öffentlich-rechtlichen Sender reagierten prompt mit prompten Spezial- und Sondersendungen. Die ganz generell eher stümperhaften Nachrichtensender „n-tv“ und „N24“ zogen mit leichter Verspätung und gewohnt überfordertem Personal nach, die restlichen Privatsender zogen ihr Casting- und Comedy-Programm gnadenlos durch.

Das Ganze zeigte eindrucksvoll, was unser „Zeitalter der totalen Information“ im Kern ausmacht: Information um der bloßen Information Willen, je mehr desto besser, sei sie auch noch so sinnlos. Da fragt beispielsweise die Moderatorin der kurz zwischengeschalteten „Tagesschau“-Spezialausgabe die Korrespondentin in Paris allen Ernstes, ob es sich hier wohl um Terroranschläge handeln würde(?). Anschließend fragt dieselbe Moderatorin dieselbe Korrespondentin: „Gibt es denn schon Gerüchte… äh… Vermutungen über die Urheber?“. Freud lässt grüßen.

Auf „N24“ fragte man einen Reporter vor Ort, wie es denn zu bewerten sei, dass einer der Attentäter angeblich „Allahu akbar“ gebrüllt hätte, und ob das nicht auf einen islamistischen Hintergrund deuten würde(?), mit der Antwort des Reporters, dass das gar nichts hieße, so etwas könne schließlich jeder rufen. Andere Fragen an Korrespondenten auf verschiedenen Kanälen: „Wie können Sie sich gerade in Paris bewegen?“ und „Welche Veranstaltungen finden denn in dieser Konzerthalle normalerweise statt und welches Publikum geht da hin?“.

Tja. Und was nun? Es heißt, man lasse sich vom Terror nicht einschüchtern. Jetzt erst recht nicht. Deshalb wird auch das Fußballspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden am Dienstagabend stattfinden. Wenn man sich nicht einschüchtern lässt, müsste man allerdings konsequenterweise auf jegliche Sicherheitskontrollen rund um das Spiel verzichten. Doch im Gegenteil wird man sie auf ein Maximum verstärken …aber man lässt sich nicht einschüchtern.

Die französische Armee hat inzwischen in einer „Vergeltungsaktion“ Stellungen des Islamischen Staat in Syrien bombardiert. Doch was, wenn diese Islamisten nun in gleicher Weise reagieren: Man lässt sich durch Bomben nicht einschüchtern. Jetzt erst recht nicht. Oder was erwartet man nun?

Der französische Präsident Hollande hat einen dreimonatigen Ausnahmezustand erklärt, für Frankreich den Kriegsfall ausgerufen, die vergeltende Bombardierung in Syrien befohlen, und kann – angesichts offenbar lähmender Generalbetroffenheit – auf weitest reichendes Verständnis zählen. Das hatten wir schon einmal, im September 2001, als US-Präsident Bush Junior „uneingeschränkte Solidarität“  zugesprochen wurde, Afghanistan und den Irak bombardierte und Saddam Hussein hinrichtete. Den Terror hat das offenkundig nicht beseitigt.