Mittwoch, 8. Mai 2002

Den Blinden eine Brille

Gut. Ich habe ein paar Tage abgewartet. Allerdings habe ich mich dann nun doch entschlossen, mich diesem äußerst diffizilen Thema aus Thüringen zu nähern: "Erfurt und die Folgen". So jedenfalls hießen in den letzten Tagen die Titel in Zeitungen und Fernsehen. Womöglich wäre ein Titel wie "Erfurt und die Ursachen" sinnvoller gewesen. Aber das ist nur meine persönliche Meinung.

Manche meiner Mitmenschen denken da nämlich etwas anders: "Dadurch, dass wir uns die Folgen dieser Katastrophe vor Augen führen, können wir die Ursachen bekämpfen". Aha. Zum Beispiel in Form eines verschärften Waffengesetzes, wie sich sämtliche Parteien des Bundestages einig sind. Womöglich werden ähnliche Attentäter dann in Zukunft eben etwas tiefer in die Tasche greifen müssen, wenn sie am Frankfurter Hauptbahnhof ihre Uzi bestellen. Oder sie surfen eben etwas länger als üblich im Internet - so lange, bis sie die Bauanleitung für Rohrbomben gefunden haben.

"Den Blinden eine Brille". Ich bitte inständig darum. Oder anders gesagt: Ich kann nicht von mir behaupten, dass ich es permanent in meinem Leben einfach gehabt hätte. Weder auf der Schule noch im Anschluss. Ich habe nicht nur nette Mitmenschen getroffen, sondern auch weniger nette. Dennoch kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich auch nur ein einziges Mal auf den Gedanken gekommen wäre, mir eine Waffe zu besorgen und mir den Frust von der Seele zu feuern. Andere Menschen - eben diese Attentäter - kommen sehr wohl auf solche Gedanken. Auch bei einem verschärftem Waffengesetz. Vielleicht lohnt sich die Frage: "Warum?".

Eines dürfte so ziemlich jedem einleuchten: Gesetze hindern keinen am Denken. Und Gesetze ändern das Denken nicht. Wenn in manchen Köpfen Mordgedanken kreisen, dann hilft weder ein Waffengesetz noch die Abschaffung von Schießbuden auf der Kirmes.Gut. Beschäftigen wir uns mit den Ursachen. Unser kultureller Staatsminister Nieda-Rümelin meinte gerade heute, dass (laut einer Studie natürlich) weder durch Gewaltvideos noch durch Action-Games für Computer und PlayStation ein Mensch zum Attentäter wird. Andererseits jedoch wäre beides dazu geeignet, einen ohnehin gewalttätig veranlagten Menschen quasi den letzten Schubser zu geben, um seine Mordgelüste in die Tat umzusetzen.

Man lernt doch nie aus: Es gibt also "gewalttätig veranlagte Menschen". Das war mir neu. Also: Menschen, die von Geburt an zur Gewalttätigkeit neigen. Wenn man das so betrachtet, dann könnte man eigentlich gleich sagen: "Diese Menschen können also gar nichts dafür, sondern sind gleich als Massenmörder geboren worden".Ein prima Lösung aller Probleme. Mit dieser Erklärung brauchen wir dann auch nicht weiter darüber nachzudenken, ob es nicht womöglich in unserer Gesellschaft irgendwo hakt.
Andererseits stellt sich dann die Frage, wie man mit einem verschärften Waffengesetz die Geburt von Massenmördern einschränken will.Andere Experten sind anderer Meinung. Sie sind sehr wohl der Meinung, dass tatsächlich innerhalb der Gesellschaft irgend etwas aus der Bahn geraten ist. Nur: was? Es könne nicht angehen, dass sich unsere Jugend in ihrer Freizeit mit Gewaltvideos und -computerspielen beschäftigt. Also: verbieten. Genauso wie actionreiche Fernsehserien und Spiel- und Kino-Filme. Alles verbieten. Wie heißt es so schön... mit solch abartigem Input will die Jugend der Realität entfliehen.

Könnte nicht bereits diese Feststellung eigentlich schon etwas weiter bringen? Warum hat die Jugend (und übrigens: nicht nur die Jugend) immer häufiger und intensiver den Drang, der Realität entfliehen zu müssen?Die Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein Heide Simonis meinte treffend: "Wir müssen der Jugend wieder mehr Selbstbewusstsein geben. Damit sie sich so einen Müll gar nicht erst ansieht". Womit eben Gewaltvideos und ähnliches gemeint war. Hier lohnt es sich durchaus, etwas genauer hinzuschauen: Was ist das wirkliche Problem?
Das eigentliche Problem sind ganz sicher nicht Videos, Fernsehserien und Computerspiele. Das wirkliche Problem ist die Botschaft, die (unter anderem) der Jugend darüber vermittelt wird.

Und die Botschaft lautet: "Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung". Verachtenswert. Niederträchtig. Unmenschlich. Auf jeder Mattscheibe auf jedem Kanal wird andauernd diese Botschaft verkündet. Schluss damit: verbieten. Gewalt darf nicht länger als geeignetes Mittel präsentiert werden, um Probleme zu lösen.
Ich hoffe stark, dass Heide Simonis und ihre werten Kollegen ein entsprechendes Fax ins Weiße Haus schicken. Sowie auch all denen, die dem dort sitzenden Texaner ihre uneingeschränkte Solidarität zugesichert haben.Ich kann das auch deutlicher sagen: Wenn die ranghöchsten Personen in demokratischen Zivilisationen verkünden "Wir schlagen selbstverständlich mit gleicher Härte zurück" und Gewalt und Bomben und Krieg als "gerechtes Mittel zur Rache" legitimieren... wer darf sich da noch wundern, wenn sich der kleine Mann daran ein Beispiel nimmt? Nach dem elften September dröhnten über jeden Kanal in jedes Wohnzimmer die immergleichen Parolen in Sachen Vergeltung. Kaum einer, der einen Gegenschlag der Amis öffentlich ernsthaft in Frage stellte. Die selben Parolen, die über diverse Videos und Action-Games in die selben Wohnzimmer gelangen.

Eine andere "Ursache für Erfurt" soll darin gelegen haben, dass sich der Attentäter minderwertig gefühlt haben soll und "wenigstens ein einziges mal berühmt sein" wollte.Mit anderen Worten: Der Junge hatte Komplexe. Minderwertigkeits-Komplexe. Einfach nicht genug Selbstbewusstsein. Siehe Forderung von Heide Simonis.
Ist das ein Wunder? In einer Welt, in der einem vom Aussehen über den Beruf bis zum Lebensstil permanent klar vorgeführt wird, wie man bitte idealerweise zu sein hat oder ansonsten leider "out" ist.In einer Welt, in der Kinder mit dem Schlimmsten rechnen müssen, wenn sie sich mit der falschen Modemarke in die Schule trauen. In einer Welt, in der Erfolg einzig und allein an Bankkonto und Automarke festgemacht wird und alles so wahnsinnig jung und dynamisch ist, dass ein gefeuerter 50-jähriger keine Chance mehr auf einen neuen Job hat. Soweit mir bekannt ist wird in keiner Schule gelehrt, was im Leben wirklich wichtig ist. In keiner Schule wird gelehrt, wie man sich seines Selbst bewusst wird und wie man mit seinen Mitmenschen umgehen sollte.

Das, was in der Wirtschaft unter "Emotionaler Intelligenz" verstanden und überall dringendst gesucht wird, ist in der Schule kein Thema. Das, was das Zusammenleben von Menschen essenziell ausmacht, was Gerechtigkeit und Toleranz bedeuten, wird an keiner Schule gelehrt.Studierte Pädagogen argumentieren an dieser Stelle, dass die Schule kein Eltern-Ersatz sein kann und es nicht ihre Aufgabe sei, häuslich vernachlässigte Schüler aufzufangen.
Kurz gesagt: Emotionale und menschliche Kenntnis- und Werte-Vermittlung sei Sache der Eltern. Prima. Fragt sich nur: Woher bekommen eigentlich die Eltern die entsprechenden Kenntnisse, die sie ihren Kindern vermitteln sollen?
Die Pädagogen sehen also ihre Aufgabe zwar durchaus darin, den Schülern zu vermitteln, was mathematisch und physikalisch und sprachlich richtig und falsch ist. Was im Leben und im menschlichen Miteinander sinnvoll ist, gehöre jedoch nicht dazu. Frage: Warum eigentlich nicht? Sicher ist es an der Zeit für eine Veränderung. Heute mehr denn je. Allerdings gilt auch hier das Leitmotiv: Andere Ergebnisse erzielt man nur durch anderes Handeln. Und anders handeln wird man erst dann, wenn man begonnen hat, anders zu denken. Es beginnt beim Denken. Ganz weit vorn.