Freitag, 24. August 2012

Bürger unter öffentlicher Anklage


Stellen Sie sich vor, jemand gesteht offen, dass er raucht und sich ungesund ernährt, dass ihm die Umwelt, der Klimawandel und Tierversuche völlig egal sind, und dass er Kinder nicht ausstehen kann. Grundrecht auf freie Meinungsäußerung hin oder her: So etwas kann sich heute niemand mehr erlauben, ohne schlagartig geächtet zu werden.

Die Akzeptanz und das Überleben in einer sozialen Gemeinschaft stehen heute zunehmend unter potenziellem Rechtfertigungszwang.
Wenn man etwa gute Freunde zum Essen in die eigenen vier Wände einlädt, dürfen keinesfalls argentinische Steaks serviert werden, denn das wäre schließlich biologisch und ökologisch kritikwürdig. Anders gesagt: Um geschmacklich zu beeindrucken, darf man zwar argentinische Steaks auftischen, muss allerdings erklärerisch die Herkunft auf den Hofladen des örtlichen Bauernhofes verlegen, von wo man das Fleisch selbst abgeholt hat, und zwar selbstverständlich mit dem Fahrrad.

In Reihen- und Einfamilienhausgegenden wiederum sind inzwischen immer mehr Häuschen mit Photovoltaikanlagen ausgestattet. Da geraten langsam die paar Hausbesitzer in Erklärungsnot, die noch immer keine Solarzellen auf dem Dach verteilt haben. Erst recht solche, auf deren Auto der Aufkleber „Atomkraft? Nein Danke!“ prangt. Wie kann man nur gegen Atomstrom wettern, aber gleichzeitig mit seiner Heizanlage die Klimakatastrophe befeuern? Unmöglich.

Und wie ist das mit der konventionellen Post? Das Versenden von Grußkarten aller Art, völlig überflüssiger Ansichtskarten, Geburtstagskarten, Feiertagsgrüße? In Zeiten digitaler Datenübertragung von eMail, SMS und in „Sozialen Netzwerken“ eine völlig überflüssige mehrfache Umweltbelastung durch den Transport, Ressourcenverbrauch und Müllproduktion. Wie will man das noch ernsthaft rechtfertigen?

Erst recht: Wasserspender, zum Beispiel in Arztpraxen und Drogeriemärkten seit einiger Zeit quasi Standardausstattung. Muss diese Verschwendung, dieser Schein von Überfluss wirklich sein? In ein paar Jahren werden schließlich um Trinkwasser Kriege geführt werden, dazu auch hier die Umweltbelastung durch die Nachfüll-Logistik mitsamt dem anfallenden Müll. Andererseits: Wer die Wasserspender deshalb boykottiert, mitvernichtet dadurch u.a. zahlreiche Arbeitsplätze, die daran hängen.

Von der Kleidung am Leib bis zum Kaffee, den man trinkt, muss alles biologischen, ökologischen, sozial-ethischen Maßstäben standhalten. Nein, wirklich: Es ist knifflig geworden, sich korrekt zu verhalten, und notfalls dafür auch die akzeptable Rechtfertigung parat zu haben.
Erst recht in einer Zeit, die ein kluger Mann als „Show der öffentlichen Anklage“ bezeichnete. Denn schließlich, ob man will oder nicht, präsentiert man öffentlich sein korrektes und inkorrektes Verhalten, etwa durch den Umweltzonenaufkleber („Feinstaubplakette“) an der Windschutzscheibe, und durch die mit „Bio“ und „Öko“ etikettierten Waren, die man – sichtbar für alle anderen – auf das Kassenband im Supermarkt legt.