Montag, 27. Mai 2013

Gehirn und Geist ohne Sinn und Verstand

Die Gehirnforschung schreitet unaufhörlich voran. Nur das Humorzentrum hat man noch nicht gefunden. Das ist bedauerlich. Davon nämlich braucht man eine gute Portion, wenn man hört und liest, was die Gehirnforschung angeblich so alles an Erkenntnissen liefert. Ein humoristisches Prunkstück ist dabei die Fernsehsendung „Geist und Gehirn“.

Das geringste Übel hieran ist wohl noch der Titel der Sendung, basierend auf der erfolgreichen Suggestion, dass vom Denken bis zu persönlichen Charaktereigenschaften ein Körperorgan verantwortlich wäre. In derselben Qualität könnte man das Ganze auch mit „Humor und Leber“ übertiteln. Erst recht, wenn das Ganze auch noch von einem Psychiater moderiert wird, dem ungekrönten „Mr. Sozusagen“, Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer. Das ist ungefähr so, als ob man einem Stauforscher die TÜV-Abnahme eines Airbus anvertraut.

In einer der letzten Folgen wurde der Zuschauer über den vermeintlichen Einfluss des Fernsehens auf unsere Kinder belehrt – genauer gesagt: über die Ergebnisse einer 10 Jahre alten Studie mit 11- und 15-jährigen Kindern, „deren Daten zu den härtesten zählen, die es gibt“, so der Moderator. Und wer daran zweifelt, „der muss erst einmal erklären, warum die Daten so sind, wie sie sind, und das kann er nicht“. Von wegen.

Die Daten sind so, wie sie sind, weil man (zum Beispiel) 11- und 15-jährige Kinder dafür ausgewählt hat. Man hätte natürlich etwa auch 10- und 14-Jährige auswählen können. Hat man aber nicht. Der Grund dafür bleibt ein Geheimnis. Und die Daten sind so, wie sie sind, weil man (zum Beispiel) mit dieser Studie bestimmte Fragen klären wollte – andere Fragen dagegen nicht. Und so sehen dann eben auch die Antworten aus. Beispielsweise…

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer präsentiert eine Folien-Serie mit Balkendiagrammen und bemerkt dazu: „Wir sehen, dass Jugendliche, die viel fernsehen, nicht so viel spazieren gehen“. Natürlich. Unsere Wälder und Stadtparks wären voll mit 11-Jährigen, die spazieren gehen, würden sie nicht so viel fernsehen. Wie viele davon weder spazieren noch fernsehen, sondern sich stundenlang mit Hausaufgaben herumschlagen, wird hier leider nicht geklärt.

Laut dem Moderator leidet auch das „Gespräche führen“ unter dem Fernsehkonsum: „Es heißt ja oft, man braucht doch unbedingt den Fernsehapparat, weil man Sozialkontakte haben muss, denn die laufen über die Medien“ und „Es wird wirklich oft gesagt, wenn Kinder heute keinen Fernseher haben, dann vereinsamen sie“. Da wäre erheblich klärungsbedürftig, von wem genau das „oft“ bzw. „wirklich oft“ gesagt wird. Mir persönlich jedenfalls ist das neu.

Nächste Folie: „Musikinstrumente üben“. Und Manfred Spitzer informiert uns: „Naja, das wundert einen nicht, dass natürlich derjenige, der mehr fernsehen schaut, weniger Musikinstrumente übt, einfach weil er dafür weniger Zeit hat“. Oder vielleicht: gar kein Interesse daran? Warum bitte ausgerechnet „Musikinstrumente üben“? Warum vorher „Spazieren gehen?“. Genau so kommt man auf „Daten, die sind, wie sie sind“: weil die Antworten von den Fragen abhängen.

Nächste Folie: „Schulnoten“. Der moderierende Psychiater erklärt, dass die Schulnoten umso schlechter sind, je mehr ein Kind vor dem Fernseher sitzt. Er erklärt dagegen nicht, warum man für diese Erkenntnis eine Studie aus der Gehirnforschung benötigt. Dass laut Spitzer vor allem die „Lesekompetenz“ unter Fernsehkonsum leidet, ist dagegen eine Auswirkung, die etwas mehr Beachtung verdient (komme gleich darauf zurück).

Professor Spitzer weiter: „Mit Statistik könne man vieles beweisen, wird oft behauptet, was nebenbei falsch ist, aber es wird manchmal behauptet“. Aha. Das ist also – nebenbei – falsch. Sagt der Mann, der gerade ein ganzes Feuerwerk statistischer Daten gezündelt hat. Jedoch:
Wir haben eben auch mehr als Statistik! Wir wissen, warum das so ist, wie es ist. Und dazu dient eben genau die Gehirnforschung“. Wie bitte? Wozu dient die Gehirnforschung? Um „zu wissen, warum das so ist, wie es ist“, über nackte Zahlen und Daten hinaus? Die Gehirnforschung liefert nichts anderes: Messdaten! Sonst nichts. Alles andere sind auf solchen Daten basierende Interpretationen und Erklärungsversuche.

Eine andere Frage ist: welche eigentlich? Mit welchen Forschungsergebnissen welches Forschers beschäftigt man sich? So könnte Prof. Dr. Dr. Spitzer bei dem Hirnforscher Detlef B. Linke nachlesen, wie wir uns (natürlich) mittlerweile an die multimediale Alltagswelt angepasst haben, wie gerade die Verbreitung des Fernsehgerätes (inzwischen zudem: Computer und Smartphone) unser Gehirn gegenüber früher immer weniger mit Struktur und Stabilität befeuern, sondern immer mehr mit Auflösung und Bewegung.

Das heißt: Bis zur Verbreitung des Fernsehers lebten wir in der so genannten „literalen Epoche“ des Buchdrucks, in der geordnete, strukturierte, logische Abfolgen dominierten, die ansonsten unverständlich wären, so eben etwa Buchstaben und Musiknoten.
Der Fernseher dagegen läutete die „telematische Epoche“ ein. Hierin dominieren keine ruhenden Zeichen-, Ziffern- und Noten-Abfolgen mehr, sondern Bewegung als Aufleuchten und Erlischen von Bildpunkten, eben das Flimmern der „Flimmerkiste“. Hierhin dominiert nicht das geordnete Nacheinander (z.B. von Buchstaben, Noten, Absätzen, Kapiteln, etc), sondern die Parallelität und Gleichzeitigkeit des „Multitasking“. Hierin dominiert nicht das Geschriebene, sondern Symbole: Verkehrsschilder, Piktogramme und Icons, die auf einen Blick verständlich sind, wo alles Geschriebene das Verstehen verzögert und erschwert. Und das ist die Welt, in der 11- und 15-Jährige heute aufwachsen.

Mit diesem Wissen erweist sich das Geplauder des Herrn Spitzer prompt als ziemlich peinlich und weltfremd. Oder um es mit den Worten eines Berliner Schulleiters zu sagen: „Wir sollten die Kinder auf ihre Zukunft vorbereiten – nicht auf unsere Vergangenheit“.