Donnerstag, 23. April 2015

gewichtig überlastet

Im Grunde sollte man seinen Fernseher verschenken. Oder zumindest erst einmal in den Keller bringen. Fürchterlich, in was man so alles hineinzappt, auf der verzweifelten Suche nach etwas halbwegs Konsumierbarem am noch relativ frühen Abend. Und dann fallen auf irgendeinem Kanal plötzlich doch ein paar Schlüsselworte, die mein näheres Interesse wecken.

Es lag nicht am Breitbildformat, dass beim Zappen eine ziemlich schwergewichtig erscheinende, junge Frau auf dem Bildschirm auftauchte. Wie erklärt wurde, wog sie um die einhundertachtzig Kilogramm. Diese Angabe erschien anhand des optischen Eindrucks glaubwürdig. Die junge Frau hatte ein junges Kind auf dem Arm, offensichtlich bereits ebenfalls übergewichtig, eine Dreijährige, die angeblich das Durchschnittsgewicht eines siebenjährigen Kindes besaß.

An solchen Stellen frage ich mich standardmäßig, warum dem fernsehenden Volk so etwas in die Augen gesendet wird. Doch diese Frage ist rhetorisch. Man weiß es schließlich. Es geht um Geld. Es geht um Werbeeinnahmen aus den Werbeblöcken. Und diese Werbezeit wird nur gebucht, wenn die Einschaltquoten stimmen. Also wird irgendetwas gesendet, das gute Quoten bringt. Mitunter getarnt als Reportage oder Dokumentation. Wie in diesem Fall.

Die Schlüsselworte, die mich dazu brachten, nicht sofort weiter zu zappen, fielen in der Erklärung der jungen Mutter, ihr enormes Übergewicht sei – laut ärztlicher Auskunft – ein Genfehler. Und den hätte sie an ihr Töchterchen weiter vererbt. Die Gehirne von Mutter und Tochter würden deshalb permanent „Hunger! Hunger!“ rufen. Ein wirklich tragisches Schicksal, das mit eingeschnittenem Bildmaterial unterstützt wurde: Die arme Frau beim ständigen Öffnen von Tiefkühl-Pizza-Kartons, Dosen und Mikrowellen-Mahlzeiten.

Man fragt sich prompt, wie der präsentierte Ernährungsberater und Fitnesstrainer in Personalunion (ein „Personal Coach“) eigentlich diesen Genfehler beheben will oder welchen medizinischen Eingriff am Gehirn er wohl vornehmen wird. Doch auch diese Frage ist lediglich rhetorisch. Aus fachlicher Sicht ist die Sachlage genauso klar wie schlimm. Nämlich vor allem schlimm für Otto Normalbürger, der zum wohlverdienten Feierabend mit solcher Desinformation berieselt wird.

Da ist zum Beispiel die bedauerlich übliche Verquickung von Genen und Gehirn, oder wahlweise umgekehrt von Gehirn und Genen. Das scheint für den gemeinen TV-Zuschauer erstaunlich plausibel zu sein. Oder es ist einfach schnurz. Man weiß jedenfalls, dass der Betroffene machtlos ausgeliefert ist, und deshalb zwangsläufig auch psychisch leidet. Und schon haben wir das übliche Süppchen aus Psyche, Gehirn und Genen, aus dem Therapiefälle gemacht sind.

Die fehlende Stimmigkeit liegt (hier) allerdings darin, dass Verhalten nicht vererbt werden kann. Und selbst wenn wir es hier mit einem Genfehler zu tun hätten, der das Gehirn der jungen Mutter veranlasst, ihr ein ständiges Hungergefühl vorzugaukeln, würde sie nichts daran hindern, alle zehn Minuten einen Salat, einen Apfel oder eine Banane zu verspeisen.

Genau daraus wird dann auch die Stimmigkeit schnell noch hinterher gebastelt: Erst verrät die gewichtig überbelastete junge Frau, dass sie in ihrer Ehe und Partnerschaft unglücklich ist, und – Genfehler hin oder her – eigentlich vor allem deshalb pausenlos mampft. Sieh an. Prompt kann der ernährungsberatende Fitnesstrainer daraufhin versprechen, das Gewicht der jungen Mutter mit einer Ernährungsumstellung radikal zu reduzieren. Ihr bleibt eine langweilige Gentherapie und ein Eingriff am offenen Schädel also dann doch erspart. Da haben wir aber alle noch einmal Glück gehabt.