Freitag, 29. Juli 2011

lohnend verleitet.


„Wer arbeitet, hat keine Zeit, Geld zu verdienen“. Ein geflügelter Spruch, der sich nicht auf Mindestlöhne und Durchschnittsgehälter bezieht, sondern auf „richtiges Geld“, auf Millionen, mitunter sogar Milliarden. Ein Spruch, der darauf hinweist, wie man Millionär oder gar Milliardär werden kann: nämlich entgegen aller Gerüchte jedenfalls nicht durch harte Arbeit, noch nicht einmal überhaupt durch Arbeit. Sondern durch irgendetwas anderes.

Schon in den 1950er Jahren machte sich Bertrand Russell wichtige Gedanken über die Werte-Entwicklung unserer Gesellschaft. Er war u.v.a. der Ansicht, dass es sinnvoll wäre, wenn Menschen maximal 4 Stunden pro Tag arbeiten würden. Doch er wusste auch, dass eine Arbeitszeit von täglich 8 Stunden deutlich beliebter, weil das Gehalt entsprechend höher ist.

Ganz nach dem Motto „Wer mehr arbeitet, verdient mehr Geld, kann sich mehr leisten“ haben Vollzeitarbeitsstellen das weitaus bessere Image. Kein Gedanke daran, dass Arbeitnehmer in Vollzeit per Steuern und Abgaben die Menschen mitfinanzieren müssen, die genau deshalb keine Arbeitsstelle haben, und sich der vermeintlich logische Mehrverdienst ebenso logisch so stark relativiert, dass es sich mit dem Reichtum durch harte Arbeit prompt erledigt hat.

Und wie sonst? „Wer arbeitet, hat keine Zeit, Geld zu verdienen“. Man kann zum Beispiel eine Firma gründen. Um „richtiges Geld“ zu verdienen, gilt es allerdings zu beachten, damit keinesfalls echte Produkte herzustellen, die von echten Menschen hergestellt werden. Das artet nur in Arbeit aus. Je weniger von dem allem, umso besser und lohnender.
Sehr lohnend, aber halbherzig, ist es beispielsweise, eine Firma zu gründen, die im Grunde mit nichts weiter als Luft enorme Summen erwirtschaftet, mit Datenströmen im Internet, eine „Suchmaschine“ oder ein „Soziales Netzwerk“ etwa, womit man spielend einen Börsenwert bis zu 200 Milliarden Dollar erreichen kann.

Noch lohnender kann es dagegen sein, gänzlich auf alles zu verzichten, das irgendeinen echten, realen Wert darstellt, sondern eher im Gegenteil, und dabei die erforderliche Arbeitsleistung auf ein Minimum zu reduzieren: Investieren Sie in Geld! Noch simpler und besser: in die pure Aussicht auf mehr Geld! Investieren Sie nicht darin, Menschen in Ostafrika oder anderswo auf der Welt zu helfen, die Hunger leiden, sondern investieren Sie in Weizen. Beziehungsweise: in die pure Aussicht, dass der Weizenpreis in den nächsten Jahren steigt und steigt und steigt.

Ganz wichtig: vermeiden Sie jeden Gedanken daran, ob an diesem System womöglich etwas nicht stimmt. Sich in die größeren Zusammenhänge einzudenken, sich vielleicht sogar über einen Wertewandel Gedanken zu machen, kann echte Arbeit sein. Sie laufen damit Gefahr, keine Zeit mehr zu haben, um Geld zu verdienen. Richtiges Geld. Siehe oben.
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Mittwoch, 27. Juli 2011

diebisch beraubt.


Es hat natürlich immense Vorteile, einen professionellen „Taschendieb“ im Varieté zu erleben statt in freier Wildbahn. Als unbeteiligter Zuschauer ist es dabei äußerst leicht zu behaupten, natürlich selbst niemals so lächerlich vorgeführt werden zu können, wie die Opfer, die sich der „Taschendieb“ zur allgemeinen Belustigung aus dem Publikum auf die Bühne holt.

Da werden Menschen für alle Zuschauer bestens sichtbar, doch vom jeweils Betroffenen völlig unbemerkt, der Reihe nach ausgeraubt, die Armbanduhr, die Geldbörse, der Schlüsselbund, mit etwas mehr Aufwand entfernt der „Taschendieb“ sogar einen Gürtel komplett, ohne dass der Hosenträger etwas davon bemerkt.

Wer sich bereits ein bisschen mit der Thematik befasst hat, weiß sehr genau, dass das Ganze lediglich eine Frage der gekonnten Ablenkung ist. Man wird einfach sehr geschickt in ein belangloses Gespräch verwickelt und achtet auf die übertriebenen Gesten, die der Täter mit seiner linken Hand theatralisch vollführt – statt genau deshalb besser auf seine rechte zu achten, und ihn so auf frischer Tat zu ertappen.

Jedoch: selbst dieses Wissen wird einem nicht viel helfen, wenn man es mit einem echten Profi zu tun hat. Man weiß, dass man abgelenkt wird. Man weiß, dass man im nächsten Augenblick friedlich beraubt werden wird. Man weiß, worauf man achten muss. Und dennoch: es hilft nichts. Mehr noch: Das Ganze funktioniert überhaupt nur dadurch, dass das jeweilige Opfer einbezogen wird – sei es auch noch so wissend.

Und noch mehr: das funktioniert nicht nur künstlerisch im Varieté und nicht nur diebisch auf offener Straße, es funktioniert ganz allgemein prächtig, in den Medien, in Wirtschaft und Politik, in Bildung und Medizin, wo auch immer.
Vielleicht achten Sie einmal verstärkt darauf und treffen entsprechende Vorkehrungen. Leider jedoch siehe oben: es wird wohl nicht viel helfen.
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Dienstag, 26. Juli 2011

eigenmächtig entregelt.

 
Es gibt Regeln, die etwas regeln sollen. Zum Beispiel das gemeinschaftliche Zusammenleben. Die Natur von Regeln ist der Gebotscharakter, sind also in der Regel weder Vorschriften noch Verbote, so etwa Benimmregeln, Grammatikregeln, Kleidungsregeln, Spielregeln, Ernährungsregeln, und so weiter.

Dass das Ganze funktionieren kann, ist vor allem von der Einsicht der Beteiligten abhängig. Nämlich, dass es einen tieferen Sinn hat, sich an gewisse Regeln zu halten. Deshalb gibt es den kurzgefassten Verhaltenscodex „Das macht man nicht“, zum Beispiel, sich an einer Gruppe von Menschen, die eine Warteschlange bilden, vorbei- und dadurch an eine vordere Position zu mogeln. „Die Freiheit ist immer nur die Freiheit des Andersdenkenden“, sagte Rosa Luxemburg. „Was Du nicht willst, das man Dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu“, sagt der Volksmund.

Auch hier scheint jedoch eine Ausnahme die Regel zu bestätigen, nämlich die Verkehrsregeln, die phänomenalerweise hauptsächlich eben nicht aus Regeln, sondern aus Verordnungen, Vorschriften und Verboten bestehen. Fünfzig Stundenkilometer innerorts, einhundert auf der Bundesstraße… es wird allgemein fröhlich darauf gepfiffen, wer sich tatsächlich daran hält, wird zu einem ärgerlichen Verkehrshindernis.
Auf Menschen, die begründet vorsichtig fahren, Senioren, Fahranfänger, Porzellantransporteure kann leider keine Rücksicht genommen werden. Man hat es nun einmal eilig. Und das hat es scheinbar mindestens jeder Zweite, wahrscheinlich um nach Arbeitsende rechtzeitig zur Quizshow auf der Couch zu sitzen.

Hier werden Regeln verletzt. Eigenmächtig, aus Eigennutz. Um selbst allenfalls zwei Minuten früher an sein Ziel zu gelangen wird hingenommen, dass Mitmenschen, Senioren, Fahranfänger an der nächsten Parkbucht eine halbe Stunde Pause machen müssen, weil sie vor Angst und Schreck zittern.

Dieselben Menschen, die aus Eigennutz, auf Kosten anderer eigenmächtig Regeln verletzen, schimpfen auf Manager und Politiker, die sich achso unmoralisch, eigennützig, auf Kosten anderer Vorteile verschaffen. Und alle zusammen beklagen den Werteverfall in unserer Gesellschaft.
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Montag, 25. Juli 2011

geschlechtlich verzwickt.


Am letzten Tag der Frauen-Fußballweltmeisterschaft brachte es der Chef des Weltverbandes gnadenlos auf den Punkt: „Die Frauen-Mannschaften… äh… die Frauschaften…“. Eben. Ist eine Mannschaft, die aus Frauen besteht, eine Mannschaft? Eine Frauengruppe? Und darf man bei großartiger Atmosphäre bei einem Frauenfußballspiel von einem „Hexenkessel“ sprechen, wie ein Moderator während dieser Veranstaltung fragte?

Oder offenbart sich hier etwa eine noch immer herrschende kopflastige Problematik der Gleichberechtigung von Mann und Frau, Frau und Mann? Im Jahr 2011? Im 21. Jahrhundert?

Letzte Woche wurde in Österreich politisch beschlossen, die dortige Bundeshymne im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit zu ändern: Statt „Heimat bist du großer Söhne, Volk, begnadet für das Schöne“ heißt es ab dem nächsten Jahr „Heimat großer Töchter, Söhne…“. Das ist konsequente Gleichstellung. Oder vielleicht auch nur eine andere Form des selben Problems.

Gerade die politische Sommerflaute in Berlin könnte geeignet sein, auch über die deutsche Nationalhymne geschlechtsspezifisch nachzudenken: „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland. Danach lässt uns alle streben, brüderlich mit Herz und Hand“. So, so. Brüderlich. Während die Frauen schwesterlich vereint in der Küche am Herd stehen. Oder wie soll man das verstehen? Das könnte man zeitgemäß ändern. Man könnte auch fragen, welche Frau mit dem traditionellen Text wirklich ein Problem hat. Oder welcher Mann.

Dazu könnte man eine der beliebten Umfragen starten. So, wie es die Redaktion der Fernsehsendung „Hart aber fair“ tat, eine Reporterin losschickte, um Männer nach deren Meinung über Frauenfußball zu befragen, und ausschließlich positive Reaktionen bekam. Redaktionsintern wollte man das nicht glauben, schickte daraufhin einen männlichen Reporter auf die Straße, der wiederum ausschließlich auf Männer traf, die sich über Frauenfußball lustig machten.

So viel einerseits zum Thema „Objektivität“ von Umfagen. Andererseits war damit für die Redaktion von „Hart aber fair“ erwiesen, dass Männer gegenüber Reporterinnen lügen und nur gegenüber einem männlichen Reporter die Wahrheit sagen. Was man auch umgekehrt interpretieren könnte: gegenüber einem anderen Mann will Mann nicht als Schwächling wirken, gegenüber einer Frau fällt es ihm dagegen leichter, etwas „Emotionales“ zu sagen. Es ließe sich allerdings auch in Erwägung ziehen, dass einem Befragten unbewusst durch den Kopf geht „Was will sie/er wohl von mir hören?“.

Es scheint, als sei diese Thematik noch immer verzwickter als man es für möglich halten möchte. Vielleicht spielt es auch eine Rolle, dass politisch seit ein paar Jahren nicht mehr von Gleichberechtigung, sondern von Gleichstellung gesprochen wird. Denn immerhin: berechtigt ist man, gestellt wird man.
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Freitag, 22. Juli 2011

ausdrücklich entwickelt.


Evolution ist nichts, was in Büchern beschrieben oder in der Schule gelehrt wird. Sondern Evolution findet statt. Jetzt gerade. Wir sind mittendrin. Das sollte man sich unbedingt ab und zu bewusst machen. Ganz besonders, wenn man sich mit der deutschen Sprache und verschiedenen Auswüchsen beschäftigt.

Da steht man irgendwo in irgendeinem Stadtzentrum herum, in unmittelbarer Nähe einer Gruppe von Heranwachsenden, und schwankt. Man schwankt, ob man sich dagegen wehren soll, deren Unterhaltung mitzuverfolgen, weil es jemandem, der gewissen Wert auf sprachlichen Ausdruck legt, leichte Ohrenschmerzen zufügt. Oder ob man lieber zuhören soll, um betrefflich Jugendsprache auf dem neuesten Stand zu bleiben.

Wie so oft jedoch stellt sich eine scheinbare Wahl als genau solche heraus, die man gar nicht hat, weil sie von der dramatischen Realität übertönt wird. Es ist erstaunlich, mit welcher Lautstärke sich Jugendliche gegenseitig zubrüllen. Das lässt sich nur durch eine allgemein verbreitete nachhaltige Hörschädigung infolge Discothekenlärms und Dauerberieselung mittels MP3-Abspielgeräten erklären.

Es gibt jedoch nicht allzu viel, was man verpassen würde: so ziemlich jeder Satz wird mit einem „…weiße“ („…weißt du“) abgeschlossen, direkt gefolgt von dem Füllsatz „…keine Ahnung“. Ein recht übersichtlicher Wortschatz also. Wobei es zudem in Mode zu sein scheint, das „sch“ übermäßig zu verwenden. So lautet ein typischer jugendlicher Austausch in etwa wie folgt: „Isch hab disch gestern angerufen, weiße… keine Ahnung“ – „Escht? Hab isch nisch mitgekrischt, weiße… keine Ahnung“ – „Ja, escht, weiße… keine Ahnung“.

In derselben Stadtmitte, ein paar Meter weiter in einem Lokal hört man vom Nebentisch einige Wortfetzen durch die Luft schwirren, die sinngemäß ungefähr folgendes ergeben: „…und da hat der CEO das Meeting gecancelt. Jetzt müssen wir uns online updaten wie es um die Performance steht. Aber ganz relaxed, der Workshop ist erst nächste Woche, dann wird gebrieft und wir können auf Power umswitchen“.

Ich bin mir nicht ganz sicher, welche Rolle die sprachliche Entwicklung in Darwins Evolutionstheorie spielt. Doch hier wäre es ausnahmsweise sehr beruhigend, wenn das nur die Randerscheinungen eines etwas unglücklichen Zufalls wären und nicht das Ergebnis einer beabsichtigten Schöpfung.
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Mittwoch, 20. Juli 2011

vergesslich (v)erklärt.


Wir haben uns daran gewöhnt, in einer Welt voller Wissenschaftler zu leben. Wissenschaftler, die an den wichtigsten Problemen unserer Zeit herumforschen, die uns mit ihren Studien an den gefundenen Wahrheiten teilhaben lassen, das Rätselhafte erklärbar machen, und uns damit in unsicheren Zeiten ein bisschen mehr Sicherheit geben. Man darf nur nicht weiter nachhaken und keine dummen Fragen stellen.

Wozu brauchen wir eigentlich noch unser Gedächtnis, wenn wir jede Antwort zu jeder Frage jederzeit per Mausklick aus dem Internet holen können, per Google, per Wikipedia oder auch per vegleichsweise neuartiger „Apps“, et cetera? Ein Forscherteam aus den USA hat im Wissenschaftsmagazin „Science“ jetzt eine passende Studie veröffentlicht, die diese Frage angeblich beantwortet. Das Ergebnis von vier Jahren Forschungsarbeit – was womöglich deutlich schneller gegangen wäre, hätten die Forscher einfach im Internet gesucht.

Wie kaum anders zu erwarten, ist durch diese Studie nun endlich erwiesen, was wir alle schon geahnt haben: Wenn alle möglichen Informationen abrufbereit im Internet zur Verfügung stehen, leidet unser Gedächtnis und Erinnerungsvermögen. Wir müssen uns eben nicht mehr sonderlich anstrengen, nichts mehr großartig in Büchern nachschlagen, unser Gehirn verlernt quasi zu lernen.

Eine durchaus interessante Frage wäre jedoch, warum man diese Forschungen eigentlich auf das Internet beschränkt und nicht auch das Fernsehen einbezogen hat? Man dürfte hier schließlich den identischen Effekt haben: Warum nach Ostafrika reisen, um sich über die dortige Dürre und Hungersnot zu informieren, wenn das doch in der „Tagesschau“ innerhalb von zwei Minuten erklärt wird? Oder ist das etwas anderes als dasselbe über das Internet zu erfahren? Und wenn ja: warum?

Oder: weder-noch. Zum Beispiel, weil es ein Unterschied ist, etwas wissen oder lediglich in-Erfahrung-bringen zu wollen oder nur informiert-zu-sein – inkusive dessen, was man überhaupt unter „Lernen“ und „Wissen“ versteht, beziehungsweise welches Verständnis in dieser Studie klammheimlich vorausgesetzt wird? Außerdem: Leben wir denn nicht gerade wegen des Internet in einem „Zeitalter des Wissens“ und einer „Wissensgesellschaft“?

Eine andere Frage wäre, ob nicht vielleicht auch die jeweilige Bedeutung eine Rolle spielen könnte? Es macht schließlich einen gewaltigen Unterschied, ob man etwas wissen möchte, um die Frage eines Gewinnspiels zu beantworten, oder ob eventuell die gesamte berufliche Zukunft davon abhängt.
Fragen über Fragen, die eine Studie aufwirft, die eigentlich eine Antwort geben soll. Das wiederum wirft die Frage nach der Relevanz auf, nämlich wer dafür eigentlich verantwortlich ist, nämlich Frau Betsy Sparrow, eine Psychologieprofessorin an der US-amerikanischen Columbia University.

So wird das Ganze erheblich fragwürdig bei dem Hintergrund, dass sich die Psychologie von Haus aus mit der Seele und dem Gemüt beschäftigt – was mit Gedächtnisleistung und Erinnerungsvermögen allenfalls am Rande zu tun hat. Das ist ungefähr so, als ob ein Stauforscher eine Studie über den Verschleiß verschiedener Autoreifen erarbeitet, daraus Rückschlüsse auf den Benzinverbrauch zieht, und dadurch nachweist, warum in Holland so viele Fahrräder gestohlen werden.
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