Dienstag, 7. Oktober 2014

räumlich verliehen

Der Neuroforscher John O'Keefe vom University College London und das Forscherpaar May-Britt und Edvard Moser aus Trondheim haben jetzt den Nobelpreis für Medizin bekommen, für die Entdeckung so genannter „Orts“- und „Gitterzellen“ in unserem Gehirn. Aber sehen wir uns das doch einmal jenseits der fulminanten medialen Berichterstattung an... 

Demnach speichern wir also im Hippocampus und im entorhinalen Cortex unseres Gehirns mittels Ortszellen („Place Cells“) und Gitterzellen („Grid Cells“) permanent „innere Landkarten“ unserer Umgebung ab. Die Nobelpreis-Stiftung erklärt die Entdeckung als „inneres GPS“, das Mensch und Tier ermögliche, sich im Raum zu orientieren.

Das ist aus ganz anderen als neurologischen Gründen irgendetwas zwischen sehr erstaunlich und äußerst wundersam. Ein kleiner seitlicher Blick, zum Beispiel auf die Physik, wo sich immerhin Genies wie Da Vinci, Newton und Einstein mit dem Phänomen des Raumes beschäftigt haben, informiert uns nämlich über das wissenschaftliche Rätselraten, was (ein) „Raum“ überhaupt ist.

So meint etwa Leonard Susskind von der Stanford University, Physiker und – immerhin – Mitbegründer der Stringtheorie: „Warum gibt es überhaupt Raum anstatt keinen-Raum? Warum ist er dreidimensional? Warum ist er groß? Wie kommt es, dass er nicht klein ist? Über diese Fragen herrscht keine Einigkeit.“.
Alex Filippenko, Astrophysiker an der Berkeley University in Kalifornien wiederum meint: „Was ist Raum? Wir wissen es bis heute nicht“. Und der Physiker S. James Gates jr.: „Der Raum ist eines der größten Rätsel in der Physik“.

Sieh an. Doch ganz elegant an der Rätselhaftigkeit und physikalischen Unkenntnis vorbei haben drei Neuroforscher Gehirnzellen entdeckt, die unsere räumliche Orientierung ermöglichen. Erstaunlich. Das Ganze ist gar kein physikalisches Phänomen, sondern ein medizinisches. Wer hätte das gedacht. Vielleicht sollten die Koryphäen der Physik einmal bei den Dreien anrufen. Oder man verleiht den Neuroforschern gleich auch noch den Nobelpreis für Physik mit dazu.

Und wie war das eigentlich noch mit Filippo Brunelleschi, dem Architekten aus Florenz, der um das Jahr 1410 herum im Zuge seiner Entwürfe und Bauskizzen die Raumperspektive erfand, also die räumliche Darstellung: Linien, die in der Realität parallel nebeneinander liegen, für unser Auge jedoch auf einen Fluchtpunkt zulaufen. So, wie etwa eine Straße zum Horizont hin immer schmaler und die am Straßenrand stehenden Bäume immer kleiner zu werden scheinen.

Brunelleschi legte damit nicht nur den Grundstein für die Renaissance-Bauten und -Malerei, sondern er schuf eine bis dahin unbekannte, neue Art zu sehen, also: Sinneseindrücke zu verarbeiten. Das Sehen an sich hat jeder von uns ab dem Säuglingsalter gelernt. Das „räumliche Sehen“ erlernen Kinder etwas langsamer, bis sie circa 10 Jahre alt sind. Ein Lernerfolg, der letztlich auf Filippo Brunelleschi zurückgeht – jenseits irgendwelcher „Place Cells“ und „Grid Cells“ im Gehirn.

Und dann wäre da noch das „binokulare Sehen“: Das rein physiologische Sehen mit beiden Augen, mit der so genannten „Fusion“, nämlich dem Verschmelzen der beiden getrennt von linkem und rechtem Auge wahrgenommenen „Bilder“ zu einem einzigen. Menschen, bei denen diese Fusion nicht funktioniert („Stereoblindness“), haben auch kein räumliches Sehvermögen. Da werden die „Orts“- und „Gitterzellen“ im Gehirn wahrscheinlich aus Langeweile verstecken spielen.

Doch wer will sich schon solche Randgedanken machen? Das liegt nicht im Trend. Im Trend liegt die Gehirnforschung. Die vielen bunten Bilder von Hirnscans lenken so schön von dem ab, was da alles interpretiert und erklärt wird. Das findet wohl auch das Nobelpreis-Komitée.