Freitag, 25. Oktober 2013

Man muss mit allem rechnen.

Na, sowas. Bildungsfernsehen in einem der „Dritten“ Programme. Thema: Mathematik. Präsentiert von einem Professor Doktor. Doch überraschend schnell weicht die Beeindruckung durch Thematik und akademische Titel einem fast ungläubigen Staunen über das, was da als „Bildung“ etikettiert versendet wurde.

Es war die Sendung „Mathematik zum Anfassen“. Folge 4 von 28: „Zahlen und Zählen“ …sodass man sich prompt fragt, worüber wohl in den ersten drei Folgen referiert wurde, wenn erst jetzt in der vierten Ausgabe über Zahlen gesprochen wird(?).

Man muss dem moderierenden Referenten der Sendung unbedingt zu Gute halten, dass es nicht einfach ist, das Wesen von Zahlen und des Zählens in gerade einmal fünfzehn Minuten zu erklären, und das auch noch „zum Anfassen“. Doch so war das Ganze eine exemplarische Veranstaltung dafür, was passiert, wenn sich ein sicherlich exzellenter Mathematiker auf ein Terrain wagt, auf dem er offenkundig deutlich ungeübter ist: Sprache, Rhetorik und Semantik.

Die ältesten Zahlendarstellungen, die wir kennen“, sprach der Referent, „sind etwa 30.000 Jahre alt“ und präsentiert den Knochen eines Wolfes, auf dem etliche Kerben eingeritzt sind. „Die Forscher sind sich einig“ (ohne dass man erfahren darf, welche Art von Forschern gemeint ist) „hier handelt es sich nicht um einen Schmuckgegenstand, sondern hier hat jemand bewusst Zahlen dargestellt“. Und das: in der Steinzeit!

Doch leider: Nein. Diese eingeritzten Kerben sind wohl kaum „ganz bewusst dargestellte Zahlen“, sondern es sind Kerben. Mag sein, dass irgendein Steinzeitmensch damit irgendetwas gemacht hat, was wir heute „abzählen“ nennen würden, doch das macht Kerben noch lange nicht zu Zahlen. Wenn ich mir Buchstaben ansehe, dann wird aus dem C keine 3, nur weil es an dritter Stelle des Alphabets steht.

Der Zuschauer darf dann weiter erfahren, dass der Mensch die Welt über Muster wahrnimmt. Das stimmt sogar. „Und Muster heißt: Zahlen“. Das wiederum stimmt nur mutwillig. Genauer gesagt: Wer einen Hammer hat, sieht überall Nägel. Ein Mathematiker sieht eben überall Zahlen: „Wenn ich heute an einer Stelle drei Bäume sehe, würde ich mich wundern, wenn es morgen nicht mehr drei Bäume wären. Das Spannende ist, dazu muss ich gar nicht auf drei zählen, nicht einmal auf drei zählen können, sondern ich sehe das einfach“.

Leider vergisst der Akademiker zu erwähnen, was das, was er da „einfach sieht“, ganz ohne zu zählen, denn nun mit der Zahl Drei zu tun haben soll? Schließlich: Was er da „einfach sieht“, sind Bäume, ganz sicher jedoch keine Zahlen. Das erinnerte mich unweigerlich an die Hausaufgabe unseres gerade eingeschulten Sohnes, erste Klasse, Rechnen: „Wie viel sind 2 Schafe + 4 Schafe?“ – „6 Schafe“, und erlaubte mir den kleinen Scherz: „Prima. Und wie viel sind 2 Schafe + 4 Ziegen?“. Ein Mathematiker könnte mir das ganz sicher beantworten. Notfalls mit Einkerbungen.

Kaum, dass man das zu Ende gedacht hat, vollführt der Referent etwas ähnliches nun mit Kieselsteinen: „Wenn ich vier Kieselsteine hier liegen habe, dann ist die Zahl gerade. Lege ich einen Kieselstein dazu, wird die Zahl ungerade“. Pardon: Welche Zahl? Da ist keine Zahl! Da liegen Kieselsteine!
Selbst wenn schon: Eine Zahl „ist“ weder gerade, noch „wird“ sie ungerade. Eine Zahl ist eine Zahl. Und sonst gar nichts. Wer Interesse hat, kann das prima bei Gregory Bateson nachlesen: So ist die Zahl 5 mitnichten „größer“ als die Zahl 3, und es Unfug ist zu ermitteln, wer die größere Telefonnummer hat.

Ein ähnliches gewöhnliches Phänomen sind beispielsweise „steigende Arbeitslosenzahlen“. Jedoch: Zahlen „steigen“ und „fallen“ auch nicht. Zahlen sind Zahlen. Sicher passiert es, dass zwei zeitversetzte Zählungen von arbeitsuchenden Menschen zwei verschiedene Zahlen zum Ergebnis haben; das ist aber auch alles. Noch schlimmer verhält es sich mit „steigenden“ und „fallenden“ Temperaturen. Die Temperatur ist eine physikalische Messgröße, ungefähr so wie das Meter. Eine Messgröße wie die Temperatur steigt genau so wenig, wie ein Meter fällt. Doch das nur nebenbei.

Zu guter Letzt wird dem Zuschauer noch die zurzeit größte bekannte Primzahl vorgesetzt, eine sage und schreibe 10-Millionen-stellige Zahl, zu deren Berechnung viele mathematische Tricks und Hochleistungscomputer erforderlich waren. Und der Referent stellt rhetorisch fest, man würde sich vielleicht fragen, ob es dafür überhaupt einen Anwendungsbereich in der Praxis gäbe. Nein. Man fragt sich: Was soll das eigentlich?

Diese essenziellen Frage wird – zurzeit – nur noch getoppt von Professor Alan Guth, eine Koryphäe unter den Kosmologen. Der nämlich hat sich mit monopolaren Magneten beschäftigt, die nicht existieren, aber theoretisch existieren könnten. Mr Guth hat mathematisch zweifelsfrei bewiesen, dass sie existieren müssen, wenn auch „vielleicht nicht in unserem Universum“. Wo sonst, das bedarf wahrscheinlich einer gesonderten Berechnung, an der Mr Guth bereits arbeiten wird.

Freitag, 4. Oktober 2013

Handwerklicher Bildungsengpass

Der Chef einer Handwerkskammer beklagt den Mangel an Nachwuchs: Einem üppigen Angebot von Lehrstellen stünden nur vergleichsweise wenige Interessenten gegenüber. Kurz gesagt: Etliche Lehrstellen im Handwerk bleiben unbesetzt. Die Jugend hat anderes im Sinn, die Eltern für ihre Kinder sowieso. Der Erfolg einer pathologischen Bildungspolitik.

Die so genannten „PISA“-Studien offenbaren regelmäßig angeblich die Defizite der 15-jährigen Schüler an deutschen Schulen, und zwar in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Leseverständnis. Eben das, was man wohl unter „Bildung“ hauptsächlich und vor allem anderen versteht. Deshalb wird ebenso regelmäßig der „Bildungsnot“ eine „Bildungsoffensive“ entgegen gesetzt. Motto: „Bildungsrepublik“ Deutschland. Na, warum nicht. Andererseits: warum eigentlich?

Wir brauchen Ingenieure! Genauer gesagt: Deutschland braucht Ingenieure. Jede Menge. Bauingenieure, Informatiker, Experten für die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, für unser aller Zukunft, für Deutschland als Exportnation. Prima.

Preisfrage: Wer denkt in dem ganzen Bildungswahn ernsthaft an Handwerksberufe? Werden alle Nase lang mehr Ganztagsschulen gefordert, wird Kindern inzwischen schon als 3-jährigen Englisch beigebracht und werden „schulvorbereitend“ reihenweise in Ergotherapien und zu Logopäden geschickt, um aus ihnen Bäcker, Schreiner, Maurer und Klempner zu machen? Die allseits forcierte Jagd auf den überdurchschnittlichen Notendurchschnitt führt irgendwann wahrscheinlich dazu, dass es auf dem Bau folgendermaßen zugeht. „Könnten Sie mir bitte die Schaufel reichen, Herr Doktor?“ – „Aber gern doch, Herr Doktor“.

Und auch Eltern haben mit ihren Kindern anderes im Sinn. Zwangsläufig. Quasi von Geburt ihres Kindes an dermaßen darauf getrimmt, dass es bloß nicht „hinterher hinkt“, hellwach jeden Entwicklungsschritt mit Argusaugen zu überwachen, besser ein Mal zu oft zum Arzt und zu früh zum Logopäden, als zu spät oder gar nicht. „Eltern unter Druck“ heißt es. Was tut man nicht alles dafür, dass der Nachwuchs auch „mitkommt“. Doch wohl kaum dafür, dass das Kind am Ende Fliesenleger wird.

Erst recht den Kindern wird mit einem millionenschweren Aufwand etwas anderes präsentiert. Wie öde und mühsam ist alles mögliche, was als Bildung deklariert wird, im Vergleich dazu, als „Supertalent“ einfach seine „große Chance“ zu nutzen: Dazu muss man nichts weiter als „an sich glauben“, als „Gesamtpaket“ überzeugen, vor einer Jury einigermaßen vorsingen oder unfallfrei zehn Meter geradeaus gehen zu können. Die „Superstars“ unserer Zeit bestechen selten durch ihren Bildungsgrad.

Wie war das noch mit dem 17-jährigen Mädel, das die Schule abgebrochen hat, weil sie „unbedingt singen“ will. Damit meinte sie allerdings natürlich nicht, statt der Schule eine mühsame Gesangsausbildung zu machen, sondern sich bei einer Castingshow vorzustellen: Mit einer dreiminütigen Sangesdarbietung prompt schon einmal ein kleiner Medienstar zu sein, bei RTL, in der „Bravo“, mit weiteren zwei Liedchen zum Plattenvertrag, berühmt, reich und schön. Man muss nur daran glauben – in unserem Zeitalter des Wissens jedenfalls keine leichte Aufgabe.

Vielleicht fehlt es dem Handwerk dabei nicht einmal am Image. Vielleicht fehlt es unserer Zeit nur an Romantik.