Freitag, 30. August 2013

Angst und Bange mit Methode

Kürzlich versendete das Erste Deutsche Fernsehen in „Panorama“ eine großartige Reportage über „Lehrer am Limit“ am Fallbeispiel einer Gesamtschule in Hamburg. Und wie großartig das war, zeigt sich schon allein daran, dass die Hamburger Schulbehörde prompt mit „schweren Vorwürfen“ gegen die Redaktion reagiert hat.

Lehrer müssen leidensfähig sein. Vielleicht mehr denn je. Vielleicht war das auch schon immer so; es wird nur mehr denn je zum Thema gemacht. Im angesprochenen Fall verbrachte die Journalistin und Moderatorin des Magazins „Panorama“ vier Wochen als „Co-Lehrerin“ an einer Hamburger Gesamtschule. Die Eindrücke wurden auf 25 Minuten Sendezeit zusammengeschnitten.

Präsentiert wurden mehrere Lehrerinnen in ihrem vermeintlichen Schulalltag, im Dauerstress, unter Dauerdruck, zuweilen am Rande des Nervenzusammenbruchs, einer Horde von zwölfjährigen Kindern ausgesetzt, die größtenteils machen, was sie wollen. Inwieweit das anwesende Kamerateam den Kindern noch zusätzlichen (oder: überhaupt) Anreiz dazu lieferte, ist natürlich eine andere Frage.

Eines der Hauptprobleme wollte eine Lehrerin darin erkannt haben, dass Kinder an Hamburger Schulen nicht mehr sitzenbleiben können. Die Lehrerin sieht also Notengebung und die Angst vor dem Sitzenbleiben als fehlendes, entscheidendes Druckmittel. Eine andere Idee wäre vielleicht, auch die spätere Anmeldung bei einer Fahrschule vom Notendurchschnitt abhängig zu machen: schlechte Schüler dürfen auch keinen Führerschein machen. Na, wenn das nicht zieht.

Ein paar ganz andere Ideen und seine ganz eigenen Vorstellungen hat da der diplomierte Psychologe Thomas Grüner. Sein Buch „Bei Stopp ist Schluss“ beinhaltet solche Ergüsse wie „Die Schule ist kein Wohlfühlort“ und die Schule verlange „in ihrer Funktion als Vorbereitungs- und Selektionsinstanz viele Opfer“ von den Kindern. Der Mann scheint als Kind bedauernswerte Erfahrungen gemacht zu haben, die womöglich auch seine Berufswahl stark beeinflusst haben.

Herr Grüner will mit seinem Konzept die Einsicht von „Bedürfnisaufschub“, „Frustrationstoleranz“ und Selbstkontrolle bei Kindern erreichen. Und zwar, so die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Birgit Herz, durch „Verängstigung, Beschämung und Isolierung der Kinder“, kurz: mit „emotionaler Gewalt“. Jedoch: Das Ganze wird an 300 Schulen in Deutschland praktiziert, davon mindestens 50 Grundschulen.

Auf die Frage in einem Interview, inwieweit er „Angst als Methode“ empfiehlt, antwortete Herr Grüner glatt: „Also Angst ist erstmal etwas ganz, ganz Wertvolles“. Schließlich sei es „wichtig, dass Kinder lernen, mit ihrer Angst umzugehen“. Natürlich. Das erinnert mich an den Spruch: „Wer Menschen retten will, muss sie vorher in Gefahr gebracht haben“.

Wieviel zu spät muss es eigentlich sein, wenn nur Druckausübung und gezielte Verängstigung helfen, dass Kinder lernen „wollen“? Zum Wollen genötigt. Nicht ein einziges Kind, das aus Druck und Angst Krabbeln, Gehen und Sprechen lernt. Auch später hat Jedes Kind erst einmal eine unbändige Neugier, einen enormen Wissensdurst. Und zwar: ganz von allein, aus sich heraus.

Die Frage ist: Was passiert dann? Wann und an welcher Stelle sterben die Neugier, der Wissensdrang und die Freude an der eigenen Weiterentwicklung? Vielleicht dann, wenn man es dem Kind nicht mehr selbst überlässt und das umtriebige, entdeckerische Lernen durch das ordentliche Belehren einer „fertigen Welt“ ersetzt, in der es gefälligst selbst nichts mehr zu entdecken gibt.

Picasso meinte: „Jedes Kind ist ein Künstler. Die Frage ist, wie es ein Künstler bleiben kann, wenn es erwachsen wird“. Man lasse sich nicht dadurch ablenken, dass Picasso von Künstlertum spricht. Gemeint sind außergewöhnliche Fähigkeiten, außergewöhnliche Leistungen. Jedes Kind ist dazu imstande. Es wird den Kindern bewusst abtrainiert zugunsten von Durchschnittlichkeit, zugunsten von Vergleichbarkeit, um einen Maßstab für das Über-Durchschnittliche zu haben, um eine Konkurrenzsituation herzustellen, um feststellen zu können, wer „der Bessere“ ist. Blanker Irrsinn, der vorläufig im Castingshow-Wahn gipfeln musste.

Und wie sagte Frederic Vester: „Sobald ein Kind in die Schule kommt, beginnt ein grausamer geistiger Verarmungsprozess“. Wenn das so ist: Welche Folgen hat es, wenn man – nach dem Status Quo – alles dafür tut, dass Kinder in der Schule möglichst gut sind? Das wirkt nur auf den ersten Blick provokativ. Man sollte einen zweiten und dritten riskieren.