Freitag, 29. April 2016

wissentlich ver(w)irrt

Nicht immer, aber ziemlich oft sind die Ratschläge von Experten fast erschreckender als das Problem, zu dem sie befragt werden. Das passiert vor allem dann, wenn es sich um Experten handelt, die Experten sind, weil sie eben Experten sind, und schon deshalb offenbar plaudern dürfen, wie sie wollen.

Wir leben in einer Zeit, in der bedenklich Vieles einfach schnurz ist – und immer schnurzer zu werden scheint. Die Hauptsache ist, man wird informiert, über was auch immer, von wem auch immer. Und natürlich steht dabei jeder Expertenrat weit über der persönlichen Erfahrung jedes normalen Menschen.

Da werden Hirnforscher zu gesellschaftlichen Problemen befragt und Psychologen zu pädagogischen Problemen, Pädagogen wiederum verweisen auf Ergebnisse der Gehirnforschung, Genforscher spielen den Soziologen, das alles auch kreuz und quer umgekehrt. Ein großer Kompetenzquark im Informationsbrei verrührt.

Natürlich: Wer sich ein bisschen auskennt, der weiß, dass ohnehin alles mit allem zusammenhängt. Doch genau damit wird die Befragung von spezialisierten Experten ruckzuck so paradox, wie deren Erklärungen und Ratschläge zu Themen, für die – allenfalls – ganz andere Experten spezialisiert zuständig wären.

Wie kürzlich etwa im Falle des dänischen Familientherapeuten Jesper Juul, offenbar einer wahren Koryphäe der Pädagogik, in einer Ratgeber-Kolumne „Jesper Juul antwortet“, unter anderen einer verzweifelten Mutter, die sich mit ihrem sechzehnjährigen Sohn ständig über dessen exzessive Handynutzung streitet.

Das scheint so tatsächlich erst einmal in den Kompetenzbereich eines Pädagogen zu fallen. Nach ein paar cleveren rhetorischen Ausweichmanövern rät Herr Juul schließlich, die junge Mutter solle ihrem Sohn erklären, wie selbstzerstörerisch er sich verhalte, und das mit ihm geklärt haben wolle(!), nicht etwa nur möchte.

Dieser Ratschlag ist nicht gerade revolutionär. Vor allem geht er haarscharf am Problem vorbei, das nämlich (siehe oben) ganz woanders liegt, nämlich irgendwo im Bereich der Medienwirkungsforschung, für die es (siehe oben) natürlich ganz eigene spezialisierte Experten gibt.

Ein Knackpunkt ist: Herr Juul ist nun einmal Jahrgang 1948, also fast 70 Jahre alt. Da muss man hinterfragen dürfen, inwieweit er sich (wohlgemerkt als Pädagoge) jemals damit beschäftigt und/oder annähernd verstanden hat, in „welcher Welt“ die Jugend heute aufwächst.

Und das darf deshalb hinterfragt sein, weil es frag(-)würdig ist, einen 16-Jährigen auf ein vermeintlich „selbstzerstörerisches Verhalten“ hinzuweisen, der das selbst – garantiert – anders beurteilen wird. Und wenn es deshalb(!) zu einem Streit kommt, dann hilft es auch nicht mehr, „ich möchte“ durch „ich will“ zu ersetzen.

Und es darf und muss auch deshalb hinterfragt sein, wenn ein fast 70-Jähriger versucht, sich in die Erlebenswelt eines 16-Jährigen hinein zu versetzen, um beurteilen zu wollen, was in dessen Welt „selbstzerstörerisch“ wirkt – oder ob das nicht vielleicht nur in der Welt eines alten Mannes so ist.

Man bedenke: Wenn sich Eltern heute ein neues Auto kaufen, dann ist darin (an zentraler Stelle!) ein Bildschirm mit Multifunktions-Touchscreen eingebaut, ein solches Auto ist „vernetzt“ und mit WLAN ausgestattet. Wer besonders hip ist, steuert die heimischen Rollos über das Smartphone, das ohnehin allzeit präsent ist. In einer durchschnittlichen Lotto-Annahmestelle hängen mindestens 6 Monitore herum, an und neben und über Supermarktkassen ebenso. Selbst jeder simple Briefmarken- und Leergutautomat hat heute einen Bildschirm („Wählen Sie Ihre Sprache“!)…

Und da will man einem Teenager, der in einer solchen Welt aufwächst, plausibel erklären, dass ausgerechnet sein Handy und sein Tablet „zerstörerische Wirkung“ haben sollen? Wie sagte ein Berliner Schulleiter so richtig: „Wir müssen die Kinder auf ihre Zukunft vorbereiten; nicht auf unsere Vergangenheit“. Manche Experten sind offenbar nicht einmal in der Lage, deren Gegenwart zu beurteilen

Montag, 11. April 2016

zwanghaft verhirnt

Hach, was wird man in zwanzig/dreißig Jahren darüber lachen, wie man damals, Anfang des Jahrtausends, alles mögliche ursächlich irgendwo „im Gehirn“ gesucht und gefunden und mit Hirnfunktionen erklärt hat. Lachen darf man natürlich schon jetzt darüber. Ob man schon kann, ist eine andere Frage.

Ich hatte kürzlich irgendwo geschrieben, dass ich nach fast einem Vierteljahrhundert, das ich mich inzwischen mit dem Denken und Verhalten beschäftige, einen Großteil des ganzen üblichen Geschwafels zu diesem Thema ab sofort nur noch mit Humor ertragen will. Das ist gesünder als sich ständig darüber aufzuregen.

Etwa, wenn man sich wieder einmal verzweifelt durch etliche TV-Programme zappt und hofft, dass die Sendung „Puls“ eine kleine Insel im Informations- und Unterhaltungsbrei darstellen wird. Immerhin im Videotext beschrieben als „Sendung, die tiefer geht“. Und das auch noch ausgestrahlt im seriösen Bayerischen Rundfunk. Bedenklich stimmte allerdings der zwanghaft auf „hip“ getrimmte Stil.

Um was ging’s? Um sogenannte „Handys“. Beziehungsweise: deren Nutzung, und zwar durch uns Menschen. Schließlich seien wir doch inzwischen „alle Handy-Junkies“. Das war schon einleitend die erste Fehlinformation. Ich bin persönlich der unbestreitbare Gegenbeweis und ganz sicher nicht der einzige.

Jedenfalls habe man ein paar Auserwählte gebeten, doch bitte einen Tag lang experimentell auf ihr geliebtes Smartphone zu verzichten und präsentierte deren Erfahrungsberichte, wie sie diesen einen Tag dann doch überlebt haben. Sodann folgte das heute nahezu Unausweichliche…

Wir wollten wissen“, hieß es dann, „wie unsere Handynutzung sich eigentlich auf unser Gehirn auswirkt“. Es geht offenbar nicht mehr anders: „Das Gehirn“ muss überall thematisch er- und dem unschuldigen Zuschauer aufgezwungen werden.

Und weiter in der Sendung: „Dazu besuchten wir den Psychologen XY“. Auch das wieder nahezu typisch. Kein Mensch scheint sich die Frage zu stellen, was ein Psychologe kompetenztechnisch überhaupt mit dem Gehirnorgan zu tun hat. Und weil das keiner hinterfragt, hat sich glatt die Hälfte der Psychologen mittlerweile prompt selbst zu Hirnforschern erklärt.

Dem voll entsprechend darf der jugendliche Moderator in Gegenwart des Psychologen ein paar enorm trickige Reaktionstests durchführen, deren Ergebnisse freihändig mit irgendwelchen Gehirnstimulationen erklärt werden. So ungefähr hat schon David Copperfield mit Eisenbahnwaggons beeindruckt.

Doch wie so oft: Wenn man meint, dümmlicher geht es nicht mehr, passiert etwas ähnliches auf einem anderen seriösen Kanal, im NDR, in einem Verbrauchermagazin(!), in dem es thematisch eigentlich um Haushaltsreiniger(!) ging, um angstgetränkte Vorurteile gegenüber Bakterien und deren übliche radikale chemische Bekämpfung.

Doch selbst hier, man möchte es kaum für möglich halten: „Woher kommt unsere große Angst vor Bakterien? Wir haben dazu einen Hirnforscher befragt“. Vielleicht sollte man einmal Hirnforscher danach befragen, warum Journalisten ständig auf die Idee kommen, Hirnforscher zu befragen.

Mittwoch, 6. April 2016

ahnungslos gestört

Kürzlich war in irgendeinem Nebenkanal eine Folge der Sendung „Faszination Wissen“ zu bestaunen, in der dem Zuschauer durchgehend erklärt wurde, was man über das Reizthema „ADHS“ so alles nicht weiß. Doch das ist vielleicht gar nicht einmal so paradox, wie es zunächst klingt.

Es gibt hyperaktive Kinder, die ein Aufmerksamkeitsdefizit haben. Oder umgekehrt. Für diese Beobachtung hat man eine passende Krankheit erfunden, die „ADHS“ genannt wird, mitsamt dazugehörigen Diagnosen und Therapieansätzen. So machen sich Pharmakonzerne Kunden und Therapeuten machen sich Patienten.

Dummerweise auf Kosten wehrloser Kinder und hilfloser Eltern. Die Kinder sind durch eine solche Diagnose als „gestört“ gebrandmarkt, die Eltern gleich mit dazu, noch abgesehen von fast unvermeidlichen Selbstvorwürfen und etlichen Sorgen.

In einer Folge der Sendung „Faszination Wissen“ wurde allerdings auch sehr schön das Zweifelhafte angesprochen. Irgendwelche Ursachen für „ADHS“ nämlich, also Krankheitsursachen, sind mindestens blanke Spekulation.

Zum Beispiel die Idee, es müsse sich um „fehlgeschaltete Gene“ handeln. Eine bloße Vermutung, mit der dennoch fachlich argumentiert wird: „Wir können schon – ohne jemals ein Gen untersucht zu haben – sagen, es müssen Gene sein, die dafür verantwortlich sind“, spricht ein Prof. Dr. Marcel Romanos, Kinder- und Jugendpsychiater an der Uni Würzburg. Das ist mal echt wissenschaftlich.

So hieß es in der Sendung: „Falsch geschaltete Gene verhindern, dass Botenstoffe in ausreichender Menge erzeugt werden. Weil die fehlen, werden Signale in Nervenzellen nicht richtig übertragen. Die Folge: Eine Funktionsstörung im Gehirn“. Aha. So lässt sich neben der Genforschung ganz elegant auch wieder einmal die Hirnforschung in dem Geschwafel unterbringen. Es liegt schließlich beides voll im Trend, ganz gleich, worum es geht.

Jedoch, so in der Sendung weiter: „Ein großes Problem aber gibt es: Bis heute hat man die Gene, die ADHS verursachen sollen, nicht gefunden. Auch die angenommene Störung im Gehirn ist bis heute nicht bewiesen. Schon seit Jahren suchen Hirnforscher nach Beweisen“.

Kurz gesagt: Man weiß nichts. Man vermutet Ursachen, die man nicht findet. Man vermutet Zusammenhänge, die man nicht nachweisen kann. Aber trotzig besteht man darauf, dass „ADHS“ als Krankheit existiert. Basta. Wozu haben wir sonst die Diagnosemethoden und Therapieverfahren entwickelt.

Und dann kam Prof. Dr. Kerstin Konrad zu Wort, Neuropsychologin an der RWTH Aachen, und berichtet, dass Gehirnregionen, die für die Impulskontrollen zuständig seien, bei „ADHS“-Betroffenen nicht richtig arbeiten würden. Doch das sei noch immer kein Beweis für irgendetwas, denn:

 „Das (ein Beweis) ist es in der Regel eher nicht, weil wir ja Patienten untersuchen, die schon erkrankt sind, und wir damit nicht ganz sicher sein können, sehen wir das Ergebnis der Erkrankung oder führt das, was wir sehen, zur Ausbildung der Erkrankung“.

An solchen Stellen fällt mir immer Bazon Brock ein: „Das Wesen von Wissenschaft ist es nicht, Probleme zu lösen, sondern es besteht im Problematisieren selbst“. So eben auch im Falle von „ADHS“. Und hier lässt man es sich nicht entgehen, auch das Leben an sich als Ursache zu vermuten und zum Problem zu machen:

Unter Medizinern ist höchst umstritten, ob eine Stoffwechselstörung im Gehirn „ADHS“ verursacht. Denkbar ist auch das Gegenteil: Dass diese Störung eine Folge davon ist, dass mit „ADHS“-Kindern anders umgegangen wird als mit gesunden Kindern, und sich ihr Gehirn deshalb anders entwickelt“, verlautet es in der Sendung.

Auf Deutsch heißt das: Kinder, denen man die Diagnose „ADHS“ unterstellt, bekommen (wie auch deren Eltern) Probleme, die sie ohne diese Diagnose gar nicht hätten - und das bezeichnen wir dann als „krank“ und als „Störung“. Ein echtes Kunststück. Vielleicht wird die Medizin deshalb gern auch Heil-Kunst genannt.