Mittwoch, 30. April 2014

wissenschaftlich obdachlos

Obdachlose Menschen sind nicht etwa deshalb obdachlos, weil in ihrem Leben einiges ziemlich schiefgelaufen ist, sondern weil mit ihrem Gehirn etwas nicht ganz stimmt. Zumindest bei der Hälfte der Obdachlosen ist das angeblich der statistische Fall. Zumindest in Kanada. Und auf dem Papier.

Das jedenfalls ist das Ergebnis einer Studie der Medizinerin Jane Topolovec-Vranic vom St. Michaels Hospital in Toronto, die statistisch ermittelt – also schlicht: nachgezählt – hat, dass bei 45% der von ihr untersuchten Obdachlosen schwerere oder leichtere Hirnverletzungen vorlagen ( >> Canadian Medical Association ).

Und weil sich das mit ähnlichen US-amerikanischen Studien aus den Jahren 1995 und 2008 deckt, schließt man daraus: Obdachlosigkeit ist nicht etwa vor allem ein soziales, gesellschaftliches, politisches Problem, sondern ein neurologisches, also medizinisches, und zwar im Gehirn der Betroffenen.

Prompt ist Obdachlosigkeit folglich auch „behandelbar“, „therapierbar“ und „heilbar“. Das jedenfalls wird so unter der Überschrift „Ist Obdachlosigkeit heilbar?“ medial verbreitet: „Hirnverletzungen scheinen das Risiko erheblich zu erhöhen, irgendwann im Laufe des Lebens obdachlos zu werden“. Natürlich. Und das globale Internet erhöht erheblich das Risiko, dass Desinformation aus Nordamerika auch hierzulande verbreitet wird.

Wie so oft nämlich, führt auch diese Studie zu einer Null-Diagnose. Trotz sauber geführter Statistik nämlich weiß kein Mensch, ob die Betroffenen ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten, bevor oder nachdem sie obdachlos wurden. Hauptsache, dass man das unter die Menschheit gebracht hat. Vielleicht sollte man in einer anderen Studie prüfen, wie viele Obdachlose unter Bluthochdruck leiden und womöglich nur deshalb obdachlos sind – oder trotzdem.

Aber nein: Seit runden zwanzig Jahren wird so ziemlich alles auf „das Gehirn“ zurückgeführt, was man vorher nur auf „die Psyche“ geschoben hat: Ehekrisen, schulische Lernprobleme, Übergewicht, Depression, etc, etc. Jedoch: „Das Gehirn“ gibt es so nicht! Jeder Mensch hat sein eigenes, und zwar jeden Tag ein anderes, in permanenter Veränderung. Während Sie diesen Text hier lesen, verschalten sich gerade ein paar Ihrer Synapsen neu.

Kurz gesagt: Das Gehirn verändert sich durch das, was und wie man mit seinem Gehirn denkt. Nur leider haben wir in der Schule alles mögliche gelernt, über Dinosaurier und Französische Revolution, von der Photosynthese bis zur Genetik… doch nichts darüber, wie man mit persönlichen Lebenskrisen umgehen sollte. Es hätte dem einen oder anderen vielleicht die Obdachlosigkeit ersparen können. Trotz Schädel-Hirn-Trauma und trotz solcher Studien und Statistiken.

Mittwoch, 2. April 2014

digitale Analogien

Wie alles andere, ist auch unsere Sprache in permanenter Veränderung. Wenn man außerdem weiß, dass die Sprache einen ganz erheblichen Einfluss auf das Denken hat, wäre es wirklich besser, wenn manche zeitgeistigen Entwicklungen keinen nachhaltigen Effekt haben mögen. Frei nach Wittgenstein: Erst redet man sich, und dann denkt man sich um den Verstand.

Es ist schon einige Jahre her, da musste man stark aufpassen, nicht gegen seinen Willen von irgendwem abgeholt und anderswo hin gebracht zu werden, wenn auch zunächst nur sprachlich. „Wir müssen die Menschen da abholen, wo sie sind“ war als flotter Spruch dermaßen trendig, dass er alle Nase lang zu lesen und zu hören war.

Heute wiederum scheint jeder, der bei einer x-beliebigen Gelegenheit zu Wort kommen darf, über die Lage um kurz vor Mitternacht reden zu müssen, nämlich: „Am Ende des Tages…“. Das soll wohl das „letztlich“ ersetzen; oder das bei Juristen und Betriebswirten so beliebte „Im Ergebnis…“; oder den „Endeffekt“, der in der breiten Bevölkerung schon eher verbreitet ist. Nun, letztlich werden wir im Ergebnis am Ende des Tages sehen, wie lange sich dieser Verbaltrend im Endeffekt halten wird.

Fast schon kurios wird es jedoch, wenn es sich thematisch um vermeintliche Endeffekte der Digitalisierung dreht. In der immer wieder aufgewärmten Diskussion darüber, ob das Internet uns (vor allem: Kinder und Jugendliche) süchtig und/oder dumm macht, stellt man neuerdings dem Digitalen auch rein sprachlich das Analoge gegenüber.

Sich über „soziale Netzwerke“ auszutauschen und Kontakte zu pflegen, ist demnach eine digitale Angelegenheit und qualitativ keinesfalls so ergiebig, als ob man das analog tun würde. Wobei man mit „analog“ irgendetwas zu meinen scheint wie „in echt“, also: sich gegenüber sitzend, Auge in Auge.

Und demnach ist das Aufsetzen einer eMail eine digitale Handlung, auch wenn man das ganz in echt mit den eigenen Fingern vornimmt. Mit dem Kugelschreiber dagegen schreibt man nicht mehr nur einfach etwas auf, sondern man notiert es analog. Parallel dazu wäre es besser, wenn Kinder nicht digital an der Spielkonsole sitzen, sondern analog Fußball spielen, also: in echt, draußen auf der Wiese, an der frischen Luft und so.

Da fragt man sich glatt, wie viele Menschen bei der kürzlichen Umstellung auf die Sommerzeit ihre Digitaluhren analog eingestellt haben, und wie das bei Funkuhren digital funktioniert, und trotzdem ganz in echt.