Sonntag, 9. November 2014

quälend frei

In diesen Tagen rund um das Vierteljahrhundert Deutsche Einheit wird wieder ein bestimmter Begriff leicht überstrapaziert: „Freiheit“. Die Ostdeutschen wurden damals „befreit“, heißt es. Seit dem Mauerfall, spätestens seit dem politischen Wiedervereinigungsakt, sind sie „in Freiheit“. Als ob völlig klar wäre, was mit diesem Begriff eigentlich gemeint ist.

Eines meiner Lieblingsfachgebiete ist die Semantik, auch die Semiotik, auch „Bedeutungslehre“ genannt: Die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit Zeichen, Worten und Begriffen, was sie bedeuten, bedeuten sollen, und wie sie (zum Teil: völlig anders) verstanden und verwendet werden.

Exemplarisch dafür ist etwa der Begriff „Erfolg“, der durchweg positiv verstanden wird. Ein Fehlschlag dagegen wird als „Misserfolg“ bezeichnet. Interessanterweise. Schließlich ist ein Erfolg etwas, was aus einem Tun oder Lassen er-folgt, so oder so, positiv oder negativ. Auch ein „Misserfolg“ ist also ein Erfolg. Ein Erfolg, der nur den Wünschen und/oder Erwartungen nicht entspricht. Ungefähr so, wie der Begriff „Unsinn“ unsinnig ist, weil er einen Sinn hat.

Wenn man will, kann man sich so u.a. auch mit dem Begriff „Freiheit“ aktiv beschäftigen statt ihn nur medial passiv zu konsumieren. Etwa mit der Frage, ob „Freiheit“ eigentlich das Gegenteil von „Gefangenschaft“ ist? Das hängt sicherlich davon ab. In einem Staat, in dem keine Meinungsfreiheit gestattet ist, sind Meinungen deshalb sicher nicht gefangen. Außer man betrachtet das nicht politisch, sondern sinnbildlich; poetisch vielleicht.

So gelangt man zu der Frage: Wenn die Definition und das Begriffsverständnis vom Zusammenhang abhängig sind, ist es die Freiheit an sich dann auch? Waren die Ostdeutschen in der DDR zwar unfrei, aber immernoch freier als woanders? Und wie frei ist man als Arbeitnehmer, der vom Gehalt abhängig ist, um sein Leben finanzieren zu können? Und wie ist das in Ländern, die kriegerisch von ihren Diktatoren befreit wurden, in Afghanistan, im Irak beispielsweise, wo in voller Freiheit nun wild um sich geschossen wird.

Karl Lagerfeld meinte in einem Interview: „Ich bin total verantwortungslos. Deshalb könnte ich nie ein Unternehmen führen. Ich bin freischaffend. Freiheit ist die größte Distanz zur Verantwortung“. Vielleicht ist das auch der Grund für die Rekordzahl an Single-Haushalten. Vielleicht sind gar nicht Ehe und Familie heute unpopulär, sondern das Tragen der Verantwortung, die damit verbunden ist.

„Freiheit – die größte Distanz zur Verantwortung“. Das wird zuweilen auch anders betrachtet. In den Vereinigten Staaten ist jeder so dermaßen frei, dass er auch für sich selbst die totale Verantwortung hat, so auch für seine Gesundheit. Deshalb hat es dort Jahrzehnte gedauert, bis Barack Obama eine solidargemeinschaftliche Krankenversicherung durchsetzen konnte. Bis zur nächsten Wahl. Die Republikaner werden das – gleich als erste Amtshandlung – wieder abschaffen. Im Namen der Freiheit jedes einzelnen.

Um zwei Ecken herum führt das im doppelten Sinne zur Wahlfreiheit. Schon beim Konsum hat jeder die freie Wahl. Unter anderem zwischen unzähligen Shampoos, Waschmitteln, Joghurts, Müeslis, Backwaren, Nudelsorten, Getränken, Marmeladen, und, und, und. Die Qual der Wahl, aber in voller Freiheit.

Auch in der Frage, ob man sich „gesund“ ernährt oder nicht, Billigprodukte kauft, oder teurere mit „Bio“ und „Öko“-Siegeln aller Art. Das kann jeder frei entscheiden. Außer natürlich, er muss das Billigste und Ungesündeste kaufen, weil er mit jedem Cent rechnen muss. Doch auch das kann schließlich jeder in voller Freiheit jederzeit ändern.

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