Samstag, 6. Dezember 2014

fraglich benommen

Regelmäßig wird seit Jahren immer wieder festgestellt: „Gutes Benehmen ist wieder in“, gerade auch bei jungen Menschen: Höflichkeit, „gute Manieren“, „gepflegte Umgangsformen“, und so weiter. Sogar Unternehmer und Manager strömen in „Benimm“-Seminare. Gleichzeitig spart man sich die enorme Mühe, Mitteilungen „Mit freundlichen Grüßen“ zu beenden, und begnügt sich mit „MfG“.

Seit dem ich in Bayern auf dem Land lebe, irgendwo am äußersten süd-östlichen Ende Deutschlands, habe ich mich über die Jahre hinweg daran gewöhnt, dass hier jeder jedem ein „Grüß Gott“ entgegen murmelt, auch völlig unbekannten Menschen. Eine Floskel – oder sagen wir: Geste – reiner Höflichkeit.

Schon in der Grundschule lernen die Kinder hier, dass man auch für unsympathische Menschen ein freundliches „Grüß Gott“ zu erübrigen hat. Da, wo ich herkomme, aus dem bodenständigen Ruhrgebiet, würde man das für unehrlich halten. Höflichkeit kann also offenbar über Ehrlichkeit rangieren. Doch das kennt ohnehin jeder Mann, der von seiner Frau gefragt wird, ob ihm ihre neue Handtasche gefällt.

Wo doch immer wieder gerne von „Werten“ gesprochen und ein „Werteverfall“ beklagt wird: Welchen Wert hat bloße Höflichkeit, wenn sie unehrlich ist? Welchen Wert haben Floskeln wie „VG“ („Viele Grüße“) oder „MfG“ („Mit freundlichen Grüßen“), wenn man weiß, dass sich dabei jemand sogar dieses bisschen „Mühe“ sparen will. Doch schon dafür muss man heute fast noch dankbar sein.

Ohnehin handelt es sich meist um Relikte längst vergangener Zeiten. Männer, die auf der Straße höflich ihren Hut gezogen haben, gab es allenfalls noch in den 1950er Jahren. Kopfbedeckungen sind heute dagegen meist Jugendlichen vorbehalten, die ihre Schlabbermützen und Baseballkappen allerdings nur zum Duschen und Schlafen abnehmen, wenn überhaupt.

Wenn man bei diesen Diskussionen über einen „Werteverfall“ nicht aufpasst, bleibt irgendwann nur wenig übrig, was noch verfallen kann.

Da ist zum Beispiel diese Diskrepanz zwischen „altmodisch“ und „zeitgemäß“. Soll Mann – in Zeiten der Emanzipation – Frauen tatsächlich noch die Türe aufhalten, den Vortritt lassen, in der U-Bahn den eigenen Sitzplatz anbieten oder helfen, die Einkaufstüten zum Auto zu tragen?

Vor ein/zwei Jahren begann man im Privatfernsehen damit, dass das anwesende Publikum nicht nur klatscht und kreischt, sondern sich bitte für jeden dahergelaufenen Möchtegern-Star von den Sitzen erheben soll. Eine Geste höchsten Respekts, die früher extrem selten praktiziert wurde, gegenüber Menschen mit wirklich hervor(-)ragenden Lebensleistungen. Eine Geste, die ihre Bedeutung so komplett verliert. Ein Wert, der nicht nur verfällt, sondern mutwillig zum Verfallen gebracht wird.

Laut neuestem „Benimm“ sagt man nicht einmal mehr „Gesundheit“ zu jemandem, der gerade niesen musste. Der Wunsch, er möge trotz Nieser gesund sein oder werden, war früher höflich, jetzt ist er verzichtbar. Vielmehr im Gegenteil: Der Kränkelnde sollte sich für seinen Nieser gefälligst entschuldigen und der Angenieste wortlos darüber hinwegsehen. Und „Guten Appetit“ hat man sich auch nicht mehr zu wünschen, denn schließlich sitzt man nicht nur wegen seines Appetits gemeinsam am Esstisch. Hoffentlich darf man noch „Frohe Weihnachten“ aussprechen..

Dabei ist „gutes Benehmen“ trotz aller Relativität relativ einfach. Man richte sich nach der Definition des Begriffes „Gentleman“ (von dem die weibliche Form bezeichnenderweise nicht gebräuchlich ist): „Ein Gentleman ist jemand, der alles dafür tut, damit sich die Menschen in seiner Umgebung wohl fühlen“.

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