Donnerstag, 31. Juli 2014

anatomisch gedacht.

In unmittelbarer Nähe unseres Fernsehapparates hatte ich kürzlich eine DVD zwischengelagert, auf der sich eine Dokumentation über das menschliche Gehirn befindet. Die Aufbewahrungshülle ist dem entsprechend optisch gestaltet. Unser Sohn, gerade erst sieben Jahre alt geworden, warf einen Blick darauf und stellte ganz gelassen fest: „Ah, ein Gehirn“. 

Nun richten wir uns grundsätzlich nach dem Motto „Lasst Kinder wieder Kinder sein“. Wenn der Schlingel (andauernd) wissbegierig neugierige Fragen stellt und/oder es sich (ständig) situationsgemäß ergibt, wird das selbstredend genutzt, doch wir verzichten als Eltern auf mutwillige Bildungsmaßnahmen. Aktive Noteingriffe nehmen wir nur dann vor, wenn (erstaunlich oft) eine schulische oder anderweitige Fehlbildung stattfindet.

So kam die Feststellung unseres Sohnes „Ah, ein Gehirn“ für mich doch recht überraschend. Meine Rückfrage, woher er weiß, wie ein Gehirn aussieht, verpuffte in einem gleichgültig kurzen Schulterzucken, als würde man das eben wissen, natürlich, als Erstklässler. Im Lehrplan der ersten Klasse steht das jedenfalls nicht. Vermutlich hat der Junge in meinen Arbeitsunterlagen herumgewühlt. Oder er hat das im Kinderfernsehen aufgeschappt, wo verschiedene Jungmoderatoren (so genannte „Checker“) Wissenshäppchen präsentieren, mit solch bildungsträchtigen Titeln wie „Wissen macht Ah!“ oder „Woozle Goozle“.

Doch so schnell gibt man gegenüber seinem minderjährigen Nachwuchs natürlich nicht auf und hakt noch einmal nach: „Und weißt du denn auch, was das Gehirn so macht?“. Sicher kennen Sie das: In exact dem selben Moment, in dem man etwas sagt und einem die Worte über die Lippen gleiten, weiß man, dass man gerade einen Fehler macht; in diesem Fall einen rhetorischen. Prompt bekam ich die erfolgreich suggerierte Antwort: „Na, das Gehirn denkt“.

Dennoch überkam mich erneut leichte Verwunderung. Immerhin bin ich erziehungsberechtigt. Und ich habe trotzdem keine Ahnung, woher der Bursche solche Informationen hat, noch dazu ungeprüft und unbewiesen. Und noch einmal nachgehakt: „Aha, das Gehirn denkt, sagst Du. Und deine Leber, dein Magen? Denken die auch?“ – „Nein, natürlich nicht“.

Tja. So etwas könnte der Beginn einer spannenden Diskussion irgendwo zwischen Neurowissenschaft und Erkenntnistheorie sein. Doch mit seiner geballten elterlichen Autorität, die man sich gern einbildet, steht man der Informationspolitik öffentlich-rechtlicher Institutionen von Schule und Fernsehen ziemlich machtlos gegenüber. Was ein Siebenjähriger aus diesen Quellen glaubt zu wissen, das glaubt er zu wissen.

So ergibt sich und verbreitet sich das, was man u.a. „Allgemeinbildung“ nennt: Der Mensch hat fünf Sinne, die Schwerkraft lässt Gegenstände nach unten fallen, und das Gehirn denkt. Natürlich. Das weiß schließlich jeder, seit der Schulzeit. Und weil das so ist, weil das „jeder weiß“, ist dagegen kaum anzukommen.

Das Gehirn denkt. Natürlich. Ungefähr so, wie Licht brennt. Licht kann sogar nicht nur brennen, man kann es zudem noch ein- und ausschalten. Und auch die Sonne geht allabendlich unter – mit dem Nebeneffekt, dass ein Sonnenuntergang romantisch ist, ein etwaiger Weltuntergang dagegen Angst und Schrecken auslöst.

Das Gehirn denkt. Der Künstler Joseph Beuys dagegen meinte: „Ich denke mit dem Knie“. Und der bekannt intelligente Entertainer Jürgen von der Lippe stellte fest: „Das Gehirn ist das einzige Organ, das über sich selbst nachdenken kann“. Das könnte man tun: darüber nachdenken. Sollte man auch. Notfalls mit dem Knie.

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