Dienstag, 29. September 2015

flüchtig betrachtet

Natürlich hat man auch mich längst mehrfach nach meiner Meinung zur aktuellen Flüchtlingsthematik gefragt. Jedoch: Ich habe keine. Immer noch nicht. Das löst Verwunderung aus. In unserer hektischen Zeit, wo schließlich jetzt bereits schon wieder Weihnachtsleckereien käuflich sind, bleibt einem wohl auch keine Zeit mehr, sich lange mit der Meinungsbildung aufzuhalten.

Nein, mir fehlte wirklich die Zeit dafür, mich mit dem größeren Zusammenhängen dieser Thematik zu beschäftigen. Erschwerend hinzu kommt, dass man unablässig nahezu mehrmals täglich über neue Entwicklungen informiert wird. Vielleicht soll man auch gar keine Zeit haben, das Ganze groß zu reflektieren; man soll sich bitteschön eine Meinung über’s Knie brechen.

Bemerkenswert ist immerhin schon einmal die wechselnde Wortwahl in der medialen Berichterstattung: Zunächst handelte es sich um eine Flüchtlingskatastrophe, aus der ein Flüchtlingsstrom und dann eine Flüchtlingswelle wurde, bis man nun – vorerst – bei einer Flüchtlingskrise angekommen ist. Hier und da war auch von einem Flüchtlingsdrama zu hören. Das ist ziemlich interessant, wenn man weiß und sich bewusst macht, wie Sprache das Denken (gehörig) mitbeeinflusst.

„Die Sprache ist in der Lage, den Verstand zu verhexen“, Wittgenstein. Bei einer Katastrophe will man helfen. Doch wenn aus einem fließenden Strom eine reißende Welle wird, fühlt sich manch einer schnell verängstigt und bedroht, das darf man niemandem verübeln. Und wenn man – dadurch – offenbar inzwischen in eine Krise geraten ist, kann man sich in diesem Eindruck auch noch bestätigt fühlen, und geht zur Verteidigungshaltung über. Nicht einmal wegen irgendwelcher Flüchtlinge. Sondern wegen der Wortwahl.

Mindestens ebenso interessant war es, wie in den Medien klammheimlich vorausgesetzt wurde, dass „die Deutschen“ mit einreisenden Flüchtlingen ein Problem hätten, und fleißig in der Mottenkiste von Überfremdung und Fremdenhass gekramt wurde. So stolperte man thematisch prompt zum Rassismus und zu Neonazis, die das wohl als Aufruf verstanden haben, und (natürlich nachts im Dunkeln, im Vorbei- und Wegrennen) Molotowcocktails in Häuser warfen; quasi als dösige Schlagzeilenlieferanten auf mediale Bestellung.

Dafür konnte man gleich anschließend die Hilfseuphorie „der Deutschen“ bestaunen und beklatschen, die völlig überraschend „Fremde“ gar nicht ablehnen und abweisen. Eine Generation eben, die letztes Jahr in Berlin die Fußball-Weltmeister bejubelt haben: darunter Jérôme Boateng, Sami Khedira, Mesut Özil und Shkodran Mustafi, inzwischen ergänzt mit İlkay Gündogan, Karim Bellarabi und Emre Can.

Und dann war da noch die gewohnt stillschweigende Kanzlerin, die erst einmal abwartet, woher und wohin der Wind weht, um dann ihr Fähnchen darin flattern zu lassen. Mit einer „Mutrede“ meldete sich Angela dann schließlich zu Wort: „Wir schaffen das! Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das auch“. Wahrlich: welch mutige Worte.

Ähnlich mutig trieb Helmut Kohl vor 25 Jahren die Deutsche Einheit voran. Alle Bedenken u.a. eines Oskar Lafontaine, ein Vereinigungsprozess würde Jahrzehnte dauern und etliche Milliarden kosten, stampfte Kohl mit einem „Wir schaffen das!“ erfolgreich platt und rettete damit seine Wiederwahl. Im Jahr 1993 wurde daraufhin der „Solidaritätszuschlag“ eingeführt. Bis 1995 wurden zusätzlich die Mineralölsteuer. die Versicherungs-, die Tabak- und die Erdgassteuer erhöht. Parallel dazu explodierte die Neuverschuldung zwischen 1989 und 1993 von 28 Milliarden auf 154 Milliarden D-Mark: „Wir schaffen das!“.

Jedenfalls schien es so, als könne nur ein mittelschweres Erdbeben, ein Tsunami oder der Erstkontakt mit Außerirdischen das Flüchtlingsthema aus den Hauptschlagzeilen verdrängen. Von wegen. In den Redaktionen der Medien wurde entschieden, dass wir uns ab sofort hauptsächlich mit den Messwerten von Dieselabgasen beschäftigen sollen. Der unschlagbare Beweis dafür, dass die Zukunft unvorhersehbar ist.


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