Mittwoch, 19. Oktober 2011

mehrfach verdorben.



Rund 500.000 Kinder leiden an Hunger – in Deutschland! Wer jedoch gemeint hat, dass diese Information, die letzten Sonntag zum „Welternährungstag“ veröffentlicht wurde, eine aufgeregte Diskussion entfachen würde, lag damit falsch. Das, was dagegen vielmehr thematisiert wird, ist das Mindesthaltbarkeitsdatum auf Lebensmittelpackungen. Ein kleines Lehrstück der Kommunikationspolitik: Reden wir nicht über hungernde Kinder mitten in Deutschland, lasst uns über Stempel und Verordnungen diskutieren.

Die ursprüngliche Meldung geht auf Wolfram Hartmann zurück, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), der am „Welternährungstag“ darauf hinwies, dass „etwa 500.000 Kinder in Deutschland regelmäßig nicht ausreichend ernährt werden und immer wieder Hunger leiden“ – während jährlich bis zu 20 Millionen Tonnen Lebensmittel auf dem Müll landen.
Statt sich dem erschreckenden Hungerleiden und der Unterernährung von Kindern mitten in Deutschland zu widmen und etwas (zumindest. irgend etwas) in Bewegung zu setzen (oder zumindest: anzustoßen), um diesen Zustand zu beheben, schwenkt die verantwortliche Politik dazu über, sich eine weitaus weniger pikante Nebensache herauszupicken:

So wäre Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner „für´s Erste schon zufrieden, wenn mehr Verbraucher das Mindesthaltbarkeitsdatum richtig verstehen würden“, denn das sei „lediglich eine Orientierungshilfe“, doch „trotzdem werden viele Lebensmittel, die eigentlich noch essbar wären, nach Überschreiten dieses Datums ohne zu prüfen in den Müll geworfen“. Leider dürfte es am Hungerleiden der betroffenen Kinder nicht besonders viel ändern, wenn die Familien, die genug zu essen haben, das Mindesthaltbarkeitsdatum richtig verstehen. Doch genau darum geht es hier natürlich: Ein thematisches Ablenkungsmanöver, und wie es scheint: gelungen. Bravo, Frau Aigner. So lange Sie das mit Ihrem Gewissen und Amtseid vereinbaren können.

Schuld sind also „die Verbraucher“, weil sie auf das Haltbarkeitsdatum achten und die Lebensmittel „ohne zu prüfen in den Müll werfen“. Was, bitte, sollen „die Verbraucher“ denn prüfen? In einer Zeit, in der Lebensmittel in Forschungslaboren getrimmt werden, praktiziert von einer Berufsgruppe, die „Lebensmittelchemiker“ genannt wird. Was soll „der Verbraucher“ denn wissen über „Stabilisatoren E452 und E340“, über „Trennmittel E341“, über „Emulgatoren E471 und E472e“ und was soll er bitteschön prüfen? Einmal kurz daran riechen? Oder soll er sich ein kleines Heimlabor einrichten?

Da trichtert man den Menschen unablässig ein, dass sie – grundsätzlich – als Laien keine Ahnung haben und das Denken besser den zahllosen Experten überlassen sollen, da werden Bundesämter und Aufsichtsbehörden installiert und Richtwerte, Höchstwerte, Prüf- und Gütesiegel eingeführt, et cetera, et cetera, warum überhaupt… damit „der Verbraucher“ vollauf beruhigt sein kann… und nun wird ihm gesagt, ausgerechnet auf das Mindesthaltbarkeitsdatum soll er bitte weniger achten und sich auf sein eigenes Urteilsvermögen verlassen(?). Aber natürlich.
Gerade in dem achso sensiblen Bereich der Gesundheit und des „Gesundheitsbewusstseins“, das man inzwischen erfolgreich etablieren konnte. Und gerade in einer Kultur, in der uns jede Bananen-Werbung zeigt, wie eine Banane aussehen muss, leuchtend gelb, makellos, ohne den geringsten bräunlichen Fleck.

Schon deshalb dürfte man sich ruhig einmal fragen, was das im Jahr 1981 eingeführte „Mindesthaltbarkeitsdatum“ eigentlich soll(?). Als „verbraucherpolitische Errungenschaft“ wurde es jetzt in dieser Diskussion bezeichnet (in der es übrigens ursprünglich, siehe oben, kurz mal um hungernde Kinder ging) und selbst Otto Normalbürger ist verbreitet der Ansicht, dass es eingeführt wurde, um „den Verbraucher zu schützen“ – wovor auch immer. Man darf allerdings ebenso in Erwägung ziehen, dass die Lebensmittelindustrie dafür gesorgt hat, die gewaltig davon profitiert, hübsch verpackt als „Verbraucherschutz“.

Last but not least darf man auch zwei Ecken weiter denken. Etwa darüber, was eigentlich passiert, wenn die jährlich 20 Millionen Tonnen Lebensmittelmüll tatsächlich extrem reduziert werden würden, wenn Entsorgungsbetriebe weniger zu entsorgen haben, weniger Umsatz machen und Arbeitnehmer entlassen, wenn Müllverbrennungsanlagen nicht ausgelastet sind, dadurch Mehrkosten entstehen, die letztlich wieder „der Verbraucher“ zahlt.
Oder darüber, was passiert, wenn „die Verbraucher“ dann eben nicht mehr so schnell so viele Lebensmittel durch neue ersetzen müssen, wenn Supermärkte weniger verkaufen, wenn die Produzenten ihre Überproduktion nicht mehr loswerden, wenn nur noch halb so viele Lebensmittel von A nach B transportiert werden müssen, nur noch halb so viele Lkw-Fahrer gebraucht und nur noch halb so viele Container verladen werden, etc, etc.

Doch wer will sich diese Gedanken um größere Zusammenhänge schon freiwillig machen? Und schon gar nicht um das, worum es eigentlich anfangs einmal ging: um 500.000 hungernde Kinder. Mitten in Deutschland.
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