Montag, 6. Dezember 2004

Dumm gelaufen: PISA, Teil 2

So kann man sich täuschen: Im Grunde war ich der Meinung, bereits im September alles zu dieser unsäglichen PISA-Studie gesagt zu haben, was dazu zu sagen ist. Jedoch: Weder in Medien noch Politik kehren Ruhe und Besinnung ein. Noch nicht einmal so kurz vor Weihnachten.
Die Deutschen sind also immernoch dumm. Vergleichsweise. Im Vergleich zum Rest Europas. Heißt es. Dabei ist mir heute so aufgefallen, dass mich und meine Frau und meine Generation das Ganze überhaupt nicht betrifft! Nicht wir sind mit Dummheit geschlagen, sondern nur unsere Jugend. Genauer: Die 15-jährigen. Denn PISA "misst" nur die Bildung von 15-jährigen Schülern. Ausschließlich. Also: Was soll´s? Nach uns die Sintflut. Wir haben ein reines Gewissen. Wir haben schließlich immer schön fleißig gelernt und unsere Hausaufgaben gemacht. Wir. Sie. Und ich. Unsere Politiker. Und natürlich die Verantwortlichen der OECD, die diese Studie alle drei Jahre durchführt. Oder doch nicht?
Dabei stellt sich mir die Frage: Ist unsere Jugend nun tatsächlich wirklich dümmer als wir früher? Oder als unsere Eltern und Großeltern? Oder als Schiller, Goethe, Luther und Beethoven? Anders gefragt: Was wäre wohl dabei herauskommen, wenn PISA nicht erst im Jahre 2000 erstmals durchgeführt worden wäre? Wenn es schon 1990 oder 1950 oder sogar zu Goethes Zeiten schon eine solche Studie gegeben hätte? Am Ende hätte sich herausgestellt, dass schon Goethe strohdumm war und seine Werke völlig zu Unrecht bis zum heutigen Tag hoch angesehen sind. War vielleicht schon der Sitzenbleiber Albert Einstein ein erster Hinweis auf den Niedergang des Bildungssystems?
Nun gut. Wollen wir nicht weiter herumspekulieren. Bleiben wir im Hier und Jetzt und im Jahr 2004: Was bedeutet eigentlich die Abkürzung "PISA"? Meine persönliche grobe Schätzung lautet, dass mindestens 50 Prozent der Menschen nicht wissen, dass "PISA" die Abkürzung für "Programme for International Student Assessment" ist. Da fängt es schon einmal an: Man weiß nicht, wovon man redet, aber peinlich betroffen ist man trotzdem. Dem Ergebnis der erneuten PISA-Studie zufolge hat wieder ein- mal Finnland "abgeräumt".
Genauer: Die 15-jährigen Finnen sind einsame Spitze im europäischen Bildungsniveau. In etwa 10 bis 20 Jahren wird Finnland uns also als "Export-Weltmeister" ablösen. Und jeder zweite Nobelpreisträger wird demnächst ein Finne sein. Oder vielleicht doch nicht? Im Rahmen der Berichterstattung im deutschen Fernsehen über dieses "angesagte" Thema, hat ein Sender ein Reporterteam auf die Straßen geschickt, um "die Deutschen" einmal einem "PISA-Kurz-Test" zu unterziehen. Nach dem Motto "Wie dumm ist Deutschland wirklich?" hat man den Menschen auf der Straße unter anderem die Frage gestellt: "Wieviele Bundesländer hat Deutschland?".
Doch leider: Das mag zwar zur Allgemeinbildung gehören - hat aber leider nicht das Geringste mit PISA zu tun: Die OECD fahndet in ihren PISA-Studien nach dem Wissen und den Fähigkeiten von 15-jährigen Schülern in den Bereichen Leseverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften. Und das ist auch schon "alles": Einige andere Bereiche, wie etwa Inspiration, Kreativität, Optimismus, Sozial-Kompetenz, Empathie, Einfühlungsvermögen, Geschicklichkeit und Team-Fähigkeit (etc), spielen nun einmal keine Rolle, wenn es um den Begriff "Bildung" geht. Diese so genannten "weichen" Werte sind eben völlig unwichtig, wenn es darum geht, ob ein Mensch nun "gebildet" oder "ungebildet" ist, und werden deshalb in den PISA-Studien außen vor gelassen und ignoriert. Oder?
Nein: Diese "weichen" Aspekte sind eben keineswegs unwichtig und irrelevant, sondern im Gegentum. Diese Werte spielen nur deshalb in den PISA-Studien keine Rolle, weil sie (schlicht und einfach) nicht messbar sind. Apropos "messbare Werte": Mich persönlich würde brennend interessieren, wie die Damen und Herren der OECD das "Leseverständnis" messen, analysieren und bewerten(?). Gut: In den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften ist eine Bewertung relativ einfach. Es gibt Formeln und es gibt Naturgesetze, die man entweder richtig oder falsch anwendet. Doch: Wer bitte entscheidet auf welcher Grundlage, ob ein 15-jähriger nun ein gutes oder schlechtes "Leseverständnis" hat? Leider darf man über diesen Hintergrund nichts erfahren. Es scheint uns nichts anzugehen. Hauptsache, wir wissen, dass unsere Jugend verdummt.

Mittwoch, 10. November 2004

Grenzüberschreitungen

Falls noch irgendjemand einen Zweifel daran hat, dass in diesem Land etwas nicht mehr stimmt, der sollte sich dringendst mit einem Blutfett namens Lipoprotein (a) beschäftigen. Und wer keine Zeit oder keine Lust hat, sich mit einem Blutfett zu beschäftigen, oder wer sich fragt, was ein Blutfett mit den Zuständen in Deutschland eigentlich zu tun hat, der wende sich der ZDF-Sendung "Frontal21" zu . Gut: Wie so oft beim so genannten "Investigativ-Journalismus" trifft auch "Frontal21" wieder einmal knapp daneben. Nichtsdestotrotz reicht der betreffende Bericht völlig aus, um mehr als nachdenklich zu werden: Es geht um die Frage "Was ist ein Menschenleben wert?".
Eine Frage keineswegs philosophischer Natur, sondern bedauerlicherweise aus dem Leben gegriffen. Und es geht ... um das Blutfett Lipoprotein (a), gesprochen: "Lipoprotein klein a". Und es geht um einen Menschen. Um einen so genannten "Einzelfall". Es geht um Herrn Henry Schlacht, der unter einer relativ seltenen Stoffwechsel-Krankheit leidet. Nämlich dem Überschuss von Lipoprotein (a). Henry Schlacht hat 4-mal mehr davon in seinem Blut als der Normalbürger. Die Konsequenz: Die Arterien von Henry Schlacht setzen sich regelmäßig zu, weshalb er bisher bereits zwei Bypässe bekommen hat, zweimal an der Halsschlagader operiert werden musste und jährlich irgendwelche Gefäßstützen am Herzen implantiert werden müssen. Das Leben von Henry Schlacht hängt an einem seidenen Fanden. Und dieser Faden heißt "Blutwäsche". Ein Verfahren, durch das das überschüssige Lipoprotein (a) aus Henry Schlachts Blut herausgefiltert wird.

Durch die Gesundheitsreform jedoch hat Henry Schlacht nun ein kleines Problem: Seine Krankenkasse darf diese überlebensnot- wendige Blutwäsche nicht mehr bezahlen. Wiederholung: Henry Schlachts Krankenkasse würde gern - sie d-a-r-f es nicht. Nun stellt sich die Frage, was das eigentlich für eine Neuregelung dieser Gesundheitsreform ist, die de facto einige Menschenleben kosten wird(?).
Die Redaktion von "Frontal21" befragte dazu den Vorsitzenden des "Gemeinsamen Bundesausschusses für Ärzte und Krankenkassen" Rainer Hess, der für diese seltsame Regelung verantwortlich ist. Seine sinngemäße Antwort: "Auf Einzelfälle kann leider keine Rücksicht genommen werden". Sieh an. Wieder einmal haben wir es also mit einem "wissenschaftlichen" Problem zu tun. Denn man mache sich bewusst: Es zählt eben nur das, was schwarz-auf-weiß geschrieben steht, was statistisch und zahlenmäßig erfasst und in "wissenschaftlichen" Studien nachgelesen werden kann. Alles andere sind "leider, leider Einzelfälle" - komplett ignorierend, dass sich eine Anzahl und Menge von Menschen nun einmal aus lauter Einzelfällen zusammensetzt.
Noch genauer: Herr Henry Schlacht hat das Problem, unter einer seltenen Krankheit zu leiden, von der es in Deutschland gerade einmal etwa 100 Betroffene gibt. Und das ist (leider, leider) zu wenig, um eine "wissenschaftlich beweisfähige" Studie erstellen zu können.Und noch genauer: Henry Schlacht, sein Leben und seine Krankheit sind (leider, leider) "nicht Beweis genug", um ihm seine überlebensnotwendige Blutwäsche zu bezahlen. Wieder einmal zeigt sich auf deutlichste Weise, was "ganz normal" und "selbstverständlich" zählt: Wissenschaft, Analysen, Studien, Statistiken - auch wenn das Ganze noch so entfernt vom wirklichen Leben ist.

Auf diese leichte Diskrepanz und die Lebensgefahr für Henry Schlacht angesprochen, antwortete dieser verantwortliche Vorsitzende des "Gemeinsamen Bundesausschusses für Ärzte und Krankenkassen" Rainer Hess, er könne zu medizinischen Fragen keine Stellung nehmen - er sei schließlich Jurist und kein Arzt. Sieh an. Man frage sich, warum der Vorsitzende eines "Bundesausschusses für Ärzte und Krankenkassen" ein Jurist ist, der vom eigentlichen Fachbereich nicht die geringste Ahnung hat(?).
Ich persönlich habe größtes Verständnis, dass "heutzutage" ein Gesetz und eine Verordnung "juristisch wasserdicht" formuliert sein muss, und wenn deshalb Juristen beratende Hinweise und Anmerkungen liefern. Das ist dann bitte aber auch alles. Wenn jedoch Juristen "das letzte Wort" haben und die eigentlichen Fachkundigen nur beratend daneben stehen, dann hört mein Verständnis schlagartig auf. ( Rainer Hess brach übrigens das Interview sehr wütend ab )

Nun gut. Wie auch immer. Die Redaktion von "Frontal21" hat dennoch knapp den Kern der Angelegenheit verfehlt. Nämlich die Frage, warum Herr Henry Schlacht eigentlich darauf angewiesen ist, dass die Kosten der überlebensnotwendigen Blutwäsche von der Krankenkasse übernommen werden müssen(?). Nämlich deshalb, weil diese Form der Behandlung wöchentlich(!) 1200 Euro kostet, die sich Henry Schlacht nicht leisten kann(!).
Der eigentliche Kern der Angelegenheit ist also vielmehr die Frage, was genau bitte diese horrenden Kosten verursacht? Anders gefragt: Warum ist die Behandlungsform dermaßen teuer, dass sie von einem "normalen Menschen" nicht bezahlt werden kann? Eine Frage, die erst recht gestellt werden muss, wenn es um Leben oder Tod geht. Eine Frage, die auch von "Frontal21" nicht gestellt (und damit: auch nicht beantwortet) wurde. Und die andere Frage, die sich mir in solchen Fällen immer wieder stellt, ist, warum bitte auch das ZDF alle Nase lang irgendwelche "Spenden-Shows" mit den Herren Gottschalk und Dieter Thomas Heck veranstaltet, "zugunsten" von allem Möglichen - außer zugunsten solcher Fälle vor der eigenen Haustüre(?).

Dienstag, 14. September 2004

Irgendwie dumm

Endlich! Endlich gibt es wieder eine neue Studie, die uns ein weiteres Mal bescheinigt: Deutschland, einst das Land der Dichter und Denker, steht am Abgrund. Diesmal wieder: Bildungstechnisch.

Offiziell liest sich das so: "Deutschland investiert im internationalen Vergleich weit weniger Geld in Bildung als andere Staaten. Das ist das wichtigste(!) Ergebnis der OECD-Studie 'Education at a glance'". Ich persönlich - der regelmäßige Leser meiner Artikel weiß das bestens - halte von Studien nicht besonders viel. Erst recht dann nicht, wenn es um Begriffe wie "Bildung" geht: Denn ich schätze, auch in dieser erneuten Studie wird kein Wort darüber verloren, wann genau ein Mensch "gebildeter" ist als ein anderer.
Doch darum geht es in dieser Studie erstaunlicherweise auch gar nicht: Sondern es geht zum Beispiel um die Staats-Investitionen in den Bereich Bildung: "Die OECD-Mitgliedsstaaten wendeten im Jahr 2001 durchschnittlich 5,6 Prozent ihres Bruttoinland- produktes für ihre Bildungssysteme auf, Deutschland dagegen nur ganze 5,3 Prozent. Die höchsten Ausgaben verzeichnen neben Korea (8,2 Prozent) die USA (7,3 Prozent)".Aha.Was soll unsereins nun daraus schließen? Dass in Deutschland die Dummheit regiert, weil unser Staat weniger Geld als international "durchschnittlich üblich" in das Bildungsystem investiert? Und soll das wiederum heißen: Wer mehr Geld in Bildung investiert wird automatisch schlauer?
Ich persönlich bin der beste Beweis für die Falschheit dieser Annahme. Mir ist nicht bekannt, wieviel Geld meine Eltern damals an ein bestimmtes Lehrinstitut zahlten, damit sich meine Noten in Mathematik verbessern sollten. Ich weiß nur: Es waren Unsummen. Und ich weiß: Es war erfolglos. Anders formuliert: Wenn es heißt, wer mehr Geld in Bildung investiert, wird automatisch schlauer ... muss man dann einen Menschen als "Genie" bezeichnen, der monatlich -zig Tausend Euro in Bücher investiert, in denen zu lesen steht, dass die Erde eine Scheibe ist und Hexen verbrannt gehören? Und was genau soll es aussagen, dass die USA sehr viel mehr Geld in ihr Bildungssystem investieren als Deutschland? Sind die US-Amerikaner - immerhin ein Volk, das einen Schauspieler zum Staatsoberhaupt wählt, den weltweit meisten Müll pro Haushalt produziert und 40 Prozent des weltweiten Energiebedarfes für sich und seine Klimaanlagen beansprucht - nun "gebildeter" als wir in Deutschland?

Allerdings soll das alleine natürlich nicht den Bildungs-Notstand in Deutschland nachweisen. Sondern auch unser "erheblicher Rückstand" bei der Zahl der Hochschulabsolventen hat offensichtlich bedeutenden Einfluss auf das hiesige Bildungsniveau: Es heißt: "In Deutschland schlossen im Jahr 2002 19 Prozent eines Altersjahrgangs ein Universitäts- oder Fachhochschulstudium ab. Trotz der Steigerung liegt Deutschland noch immer deutlich unter dem OECD-Mittel von 32 Prozent". Der bildungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Jörg Tauss, meint dazu: "Das deutsche Bildungssystem bringt zu wenig Abiturienten hervor". Aha.
Auch hier wieder: Was soll das nun genau heißen? Die Menge und Masse der Hochschulabsolventen ist der Gradmesser für das Bildungsniveau einer Gesamtbevölkerung?Und soll das wiederum heißen, dass Menschen ohne Hochschulabschluss demnach "ungebildet" sind - also: der Gärtner, der Schreiner, der Bäcker und der Kfz-Mechaniker? Spätestens an dieser Stelle wird diese "Bildungs-Studie" für mich zumindest fragwürdig, wenn nicht gar ein wenig menschenverachtend. Oder einfach nur: dumm und ungebildet.( P.S.: Dass diese Studie in Politikerkreisen auch noch als Grundlage verwendet wird, um angeblich notwendige Reformen am deutschen Bildungssystem einzuklagen, zeigt (mir), wo die Probleme in unserem Land tatsächlich liegen. )

Mittwoch, 8. September 2004

(Wieder-)Aufbau Ost

Die Deutschen vermissen ihre Mauer. Alle? Nein, nicht alle. Aber immerhin wohl so viele, dass es zur Schlagzeile in den Medien reicht. Tatsächlich sind es gerade einmal 20 Prozent, die sich angeblich "die Mauer zurückwünschen". Wie immer, lohnt es sich durchaus, eine solche Meldung nicht einfach nur im Vorbeigehen mit kurzem Kopfnicken oder -schütteln zu konsumieren.
Also: Was genau vernehmen wir eigentlich aus den Medien? Wir erfahren, dass eine Umfrage durchgeführt wurde. Das Ergebnis dieser Umfrage soll sein, dass "jeder fünfte Deutsche den Mauerfall rückgängig machen würde, wobei jedoch die Meinungen in Ost- und Westdeutschland deutlich auseinander gehen". Wir erfahren, dass "etwa jeder vierte Westdeutsche und jeder achte Ostdeutsche den Mauerfall rückgängig machen würde" und "31 Prozent der Ostdeutschen, aber nur neun Prozent der Westdeutschen halten die bisherigen finanziellen Hilfen für den Osten für zu niedrig". Aha.Was sollen uns diese Zahlen nun sagen? Soll hier womöglich der Eindruck erweckt werden, dass "die Ostdeutschen" nun "ihre Mauer" wiederhaben wollen, weil sie der Meinung sind, "zu wenig Geld vom Westen" einzukassieren?Die Gedanken sind frei. Und genau das ist bei dieser (wie bei nahezu sämtlichen veröffentlichten) Umfragen das Problem:
Die Zahlen, die einem vorgesetzt werden, beinhalten den Anschein von "objektiven Daten" - doch das sind sie eben nicht.Und auch der übliche dezente Hinweis darauf, dass es sich um eine angeblich "repräsentative Umfrage" handelt, soll den Anschein erwecken, es handele sich um nichts weiter als "objektiv ermittelte und neutrale Zahlen", deren Bewertung dem Leser/Zuschauer überlassen bleibt. Doch das ist mitnichten so. Eine solche Umfrage ist weder objektiv noch neutral und auch die ermittelten Zahlen sind weder objektiv noch neutral, weil sowohl die Umfrage als auch die Ergebnisse eine Botschaft beinhalten und (unterschwellig) transportieren.
Schauen Sie einfach einmal genau(er) hin. Jeden, der an die Objektivität und Neutralität dieser Umfrage glaubt, fordere ich auf, sich einmal die Frage zu stellen, w-a-r-u-m sie wohl überhaupt durchgeführt wurde. Nein. Mitnichten ist diese Umfrage durchgeführt worden, damit unsere Politiker die Stimmung "der Deutschen" erfahren. Vielmehr erfahren unsere Politiker die Ergebnisse dieser Umfrage aus den Medien. So, wie alle anderen Bürger auch. Der Punkt ist: W-i-r sollen erfahren, welche und wieviele Deutschen sich "die Mauer zurückwünschen". Warum sollen wir das erfahren? Was soll Otto Normalverbraucher mit dieser Information anfangen? Am Schreibtisch? Am Fließband? In der U- Bahn? Am Stammtisch(!)?
Der Grund, w-a-r-u-m diese Umfrage durchgeführt wurde, und dass w-i-r (alle) die Ergebnisse erfahren sollten, ist deshalb nicht ganz unbedeutend, weil die Menschen unterschwellig und sehr unauffällig mit einem Gedanken konfrontiert werden, den sie womöglich bis dahin gar nicht hatten. Anders formuliert: In wenigen Wochen ist Deutschland 14 Jahre wiedervereinigt. Es ist ein einziges Deutschland. Es ist de facto kein geteiltes Land mehr. Seit 14 Jahren. Dennoch werden seit 14 Jahren unablässig Monat für Monat die neuesten Arbeitslosenzahlen auch fein säuberlich in "Ost" und "West" getrennt bekannt gegeben. Seit 14 Jahren wird den Menschen Monat für Monat unter die Nase gerieben und werden wir monatlich daran erinnert, dass es eine "Situation im Osten" und eine andere "im Westen" gibt. Wer eine Idee hat, welchen Sinn und Zweck das haben soll, den bitte ich, mir diesen Sinn und Zweck mitzuteilen. Immerhin erfahren wir nicht / sollen wir nicht erfahren, wie sich die Arbeitslosenzahlen im Vergleich von Nord zu Süd oder im Vergleich von NRW zu Bayern darstellen - was sicherlich auch nicht ganz uninteressant wäre.
Dasselbe Phänomen entdecken wir übrigens auch bei dieser Umfrage, bei der (natürlich: "repräsentativ") 1002 Westdeutsche und 1005 Ostdeutsche befragt wurden.Auch hier steckt die Botschaft (unterschwellig) im Detail: Es werden nicht Bayern und Pfälzer und nicht Sachsen und Thüringer, sondern eben Ostdeutsche und Westdeutsche bzw deren Meinungen gegenüber gestellt. Es scheinen eben nicht alle Deutschen gleich zu sein. Wer nun "gleicher" ist, darf man sich frei aussuchen. "Dank" dieser Umfrage(!), ohne die das nicht möglich wäre(!).
Der andere Punkt ist: Uns wird vorenthalten, welche Frage den Menschen überhaupt gestellt wurde. Was genau hat man die Menschen gefragt, als man sie am Telefon aus Heiterem Himmel überraschte? Was hat man die Menschen gefragt? Etwa: "Guten Tag, wir führen eine Umfrage durch. Wünschen Sie sich die Mauer zurück?". Es fehlt eine bedeutende Information in dem Ganzen: Es heißt, dass "jeder fünfte Deutsche den Mauerfall rückgängig machen würde" ... wenn? ... wenn, was? Dieses "Wenn" wird unterschlagen. Es wird schlichtweg unterschlagen, unter welchen Umständen "jeder fünfte Deutsche den Mauerfall rückgängig machen würde". "Jeder fünfte Deutsche würde den Mauerfall rückgängig machen" ... wenn? ... wenn, was? Wenn er Kanzler wäre? Wenn er nicht bald eine Arbeitsstelle bekommt? Wenn sich das Wetter nicht bessert? Oder etwa: Wenn man ihn am Telefon nach seiner Meinung fragen würde(!)?

Donnerstag, 29. Juli 2004

Krank im Kopf

Kaum zu fassen, was in einem angeblich seriösen TV-Magazin einer öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt ungestraft verbreitet werden darf: Mittwoch Abend, 21h00, ARD, "Report" aus Mainz, Thema: "Therapie-Notstand".Das passiert, wenn es heißt "Reporter decken auf"... : Wußten Sie schon, dass sich in Deutschland jeden Tag ein Jugendlicher das Leben nimmt? Ich wußte es nicht. Und war einigermaßen erstaunt, das zu hören: Jeden Tag begeht ein Jugendlicher Selbstmord. Das muss man sich erst einmal wirklich bewusst machen. Das alleine war für mich bereits erschreckend.
Noch sehr viel erschreckender allerdings, was die Redaktion von "Report" der breiten Öffentlichkeit dazu mitzuteilen hatte:Man erklärt dem Fernseh-Publikum, dass es hin und wieder Anzeichen dafür gibt, wenn Jugendliche mit Selbstmordgedanken spielen. Und genau darum dreht sich dann auch der Bericht. Nämlich darum, was getan werden könnte, wenn solche Anzeichen bei einem Jugendlichen erkannt werden: Es wäre in einem solchen Fall dringendst eine psychologische Hilfe nötig. Heißt es. Also: Eine Therapie. Es sei deshalb ein unerträglicher Zustand, dass es in Deutschland zu wenig Therapeuten gäbe: Nicht selten gibt es Wartezeiten zwischen 6 Monaten und 2 Jahren(!). Stolz wird berichtet, dass die Redaktion von "Report" mit einem Experten der Bundespsychotherapeutenkammer eine "genaue Analyse" durchgeführt hätte, wonach etliche Kinderpsychotherapeuten in Deutschland fehlen würden.( Wie und auf welche Weise und mit welchen Zahlen diese Analyse durchgeführt wurde und wieviele Therapeuten denn nun genau fehlen, wurde übrigens nicht gesagt )
Nach den "Berechnungen" dieses Experten Dr. Dobler, der eine psychotherapeutische Praxis in Nord-Württemberg führt, entfallen angeblich "circa 130 bis 140 kranke Kinder und Jugendliche auf einen Therapeuten". Was bedeuten würde, dass circa 50 Prozent der kranken Kinder und Jugendlichen unbehandelt bleiben, weil sie keinen Behandlungsplatz finden. Schlussfolgerung: Die Kinder "gehen verloren, weil sie allein gelassen werden". In Deutschland herrsche ein nicht mehr hinnehmbarer Therapie-Notstand.
Dem entsprechend befasst sich der restliche Bericht dieses TV- Magazins damit, wie sich dieser Notstand beheben lassen könnte, und befragt dazu Psychotherapeuten und Krankenkassen. Betonung(!): Man hat einen "Mangel an Therapeuten" festgestellt. Und man befasst sich eingehendst damit, dass dieser Mangel schnell behoben werden muss und wie das gehen könnte.
Haben Sie es bemerkt? Statt sich damit zu beschäftigen, w-a-r-u-m heute überhaupt dermaßen viele Kinder und Jugendliche an Selbstmord denken, beschäftigt man sich hochintensiv damit, w-i-e man diese enorme Masse in Therapien unterbringen kann.Dem entsprechend sieht natürlich auch die "Lösung" aus: "Wir brauchen mehr Therapeuten". Kein Gedanke daran, wie man es schaffen könnte, Therapeuten überflüssig zu machen, indem man von vornherein verhindert, dass unsere Jugend durchdreht.
Anders formuliert: Wir tun rein gar nichts dafür, damit Kinder und Jugendliche glücklich, optimistisch und lebensfroh sind. Sondern wir lassen sie lieber in totale Depression verfallen, und suchen nach "Lösungen", sie davon zu "heilen". Das ist in etwa so, als ob man die Jugendlichen zur Brücke begleitet, dabei zusieht, wie sie sich in die Tiefe stürzen, und den Notarzt ruft, sobald sie unten aufgeschlagen sind.Ich frage mich ernsthaft, wer hier kranker im Kopf ist.